
Den Filmen, die zu oft KILL YOUR DARLINGS zu hören bekamen, sieht man das auch an.
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Ich Ich Ich Ich Marlon Bienert Ich Ich Ich Ich Ich
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Marlon Bienert schrieb über Sick Of Myself von Kristoffer Borgli, 2023.
„To have a philosophy is to know how to love and to know where to put it. You can’t put it everywhere, you walk around and you got to to be a minister or a priest to say: yes my son or yes my daughter, bless you. But people don’t live that way, they live with anger and hostility and problems and lack of money and tremendous dissapointments in their life. So what they need is a philosophy, what everybody needs is a philosophy, is a way to say: where and how can I love and be in love so that I can live, so that I can live with some degree of peace. And I guess every picture we have ever done has been in a way a try to find some kind of philosophy for the characters in the film.“
Wer in Wiesbaden aufwächst, weiß, dass der Kurpark, ein im Stil des englischen Landschaftsgartens angelegtes Symbol des Bourgeoisen, besetzt ist von grünen Halsbandsittichen, deren eigentliche Habitate in Afrika und Asien zu finden sind. Die Papageie sind vermutlich aus einem Tierpark entwischt und haben sich in den Nischen des vom Menschen umgewältzten öffentlichen Raums eingenistet. Mitten im Zentrum der Landeshauptstadt, in der unmittelbaren Umgebung der Spielstätte, in welcher bereits Dostojewski seinen Lohn verzockte, singen sie ihre nomadischen Lieder der Subversion. Dabei geben sie uns, ob gewollt oder nicht, ein Vorbild für den richtigen Umgang mit Genre: es gilt, den Fremdkörper in die Konvention zu schleusen, und gleichzeitig das neuartige Gefüge so stimmig erscheinen zu lassen wie die gewohnte Wirklichkeit. Eben hier lässt sich die politische Sprengkraft von Melvilles Entscheidung, die Männer in seinen Gangster-Filmen ihre ikonischen Hüte, welche in Paris bereits aus der Mode gefallen waren, weitertragen zu lassen. Jede einzelne der Kopfbedeckungen scheint zu flüstert: „Das was ist, könnte auch anders sein.“
München ist ja auch wie Leverkusen: H&M und alles. Das, was München ausmacht, als Bild ausmacht, das kann man auf der Ansichtskarte kaufen oder ein Selfie machen. Also die Kirche hier, das Museum, die Isar, der Englische Garten – und das nochmal in die Tourismus-Werbeschleife zu schicken ist langweilig. Mich interessiert eher: kann man eine Liebesgeschichte in der Umkleidekabine von H&M erzählen oder in der Eisdiele San Marco. Oder kann in der Raucherecke eines Schulhofs was beginnen? Das interessiert mich mehr. Ich finde alle Liebe und alle Leidenschaft und alle Abenteuer müssen der Welt abgetrotzt werden. Eine Liebesgeschichte unter der Frauenkirche hier oder am Marienplatz im Bayern München Fanshop – das ist eigentlich schon wieder interessant – Bayern München Fanshop könnte man sich schon wieder vorstellen…
Das München muss in dem Verhalten der Menschen, in den Blicken, in der Kleidung, im Reichtum, in den Autos – das ist doch München. Die Münchner gehen doch ganz anders als Berliner. Hier ist eine Bürgerklasse, die hat Geld, das es kracht seit zwei, drei Generationen. Die sind besser erzogen, die haben Immobilienpreise, wo jede Form von Jugendkultur im Keim erstickt wird, gleichzeitig haben sie aber auch ein Selbstbewusstsein hier und auch eine Gelassenheit. Alle diese Dinge müssen in einem Film sein, dass die Polizisten hier die Mieten nicht zahlen können, sondern zwei Stunden fahren müssen, um in die Stadt zu kommen. Deswegen spielt das Auto auch so eine große Rolle.
* Christian Petzold
Angela Schanelec „schöne gelbe Farbe“ (1991):
https://dffb-archiv.de/dffb/schoene-gelbe-farbe
Auszüge aus Joseph Vogls „Schöne gelbe Farbe: Godard mit Deleuze“:
Die Szene ist beiläufig, fast unscheinbar. Sie ist weniger als eine Szene und etwas mehr als ein Augenblick. Sie ist ein Vorübergehen, ein Zögern, ein Weitergehen, eine ziellose, kurz angehaltene Bewegung. Und sie ist überdeterminiert, sie ist ein Aufblitzen, in dem selbst etwas aufblitzt – ein flüchtiger Blick und ein unvollständiger Satz. So jedenfalls wird sie gespielt, an der sonnenbeschienenen Außenwand von Malapartes Villa auf Capri und in Godards „Le Mepris“ (Die Verachtung): Fritz Lang schlendert herbei, zögert, deutet auf Francesca, die im gelben Bademantel am abblätternden Rot der Mauer lehnt, und sagt: »Schöne gelbe Farbe«, während er weitergeht. […]
Die Farben ergeben die Ordnung des Films. Sie begleiten die Figuren und wuchern über sie hinaus. Sie übergießen das Bild, ziehen sich in Formen und formlose Formen zusammen. Sie sind Anfangs und Endpunkte oder selbst Bewegungen. Sie stehen nebeneinander, ergänzen sich, teilen und verteilen sich, bilden Oppositionen. Sie können erzählt werden und Bedeutungen in sich aufnehmen, Ja und Nein, Trauer und Glück, Verfolgung und Rettung. Sie können erzählt werden, sind aber selbst keine Erzählung, sie können Bedeutungen annehmen, sind selbst aber insignifikant. Sie bilden die Ordnung des Films, diese Ordnung aber ist nicht die einer Sprache. […]
[N]icht das scharfe Messer, sondern das Schneiden oder Schneidende, nicht ein gleißendes Licht sondern das Gleißen oder Gleißende, nicht der gelbe Stoff, sondern das Gelb-Sein oder Gelb-Seiende, oder – wie Deleuze mit einem Paradox von Lewis Carroll sagt: ein Grinsen ohne Katze.
Eine salzige Empfehlung für süße Abende vor dem Glotzofon. And the Essiggurke goes to…
10. Athena (Romain Gavras, Iconoclast/Netflix)
Kino als Adrenalin Injektion — von der ersten Minute bis zur letzten Schlacht wird in diesem französischen Action-Drama ein Feuerwerk abgefackelt, das einem die Sprache verschlägt. Eine atemberaubenden Plansequenz jagt die nächste, wobei man unentwegt mit offenem Mund zuschaut und sich fragt, wie zur Hölle die Kamera das alles schafft. Es ist ein technisches Meisterwerk, das thematisch in die Fußstapfen von La Haine (Hass, 1995) tritt. Der Ausgangspunkt ist ein Polizeimord im fiktionalen Pariser Randbezirk „Athena“. Die Reaktion darauf ist eine organisierte, fast militante Form der Gewalt. Es sind nicht mehr die kleinen Gangster, die wie in La Haine den Aufstand Proben. Es ist die wirkliche Revolution einer neuen Generation, die sich von der Gesellschaft nicht länger an den Rand drücken lassen will, die ihre Realität, bestehend aus Diskriminierung und Polizeigewalt, in Brand setzen will. Regisseur Romain Gavras fokussiert sich jedoch etwas zu sehr auf die technische Umsetzung, anstatt auf die tiefergehende Problematik von Rassismus, Perspektivlosigkeit und Gewalt einzugehen. So gleicht der Film eher einer geplanten Sprengung als einem großflächigen Stadtbrand — technisch unglaublich eindrucksvoll, aber doch nicht ganz die Naturgewalt, die alles mit sich reißt.
9. NOPE (Jordan Peele, Monkeypaw Productions)
In diesem Sci-Fi Neo-Western/Horrorfilm lässt der neue Meister des Gruselkinos Cowboys auf Aliens treffen. Eine absurde Prämisse, die in den Händen von Jordan Peele jedoch eine Falltür bietet, einen philosophischen doppelten Boden. NOPE ist auf den ersten Blick ein eindrucksvoller Blockbuster. Ein überdimensionaler Unterhaltungsfilm, der Pferde in die Luft katapultiert, ganze Häuser in Blutregen taucht und eine fliegende Untertasse über die unendlichen Weiten des wilden Westen gleiten lässt wie einen geisterhaften Schatten. Epische Bilder, tiefe Ängste, großes Entertainment. Doch auf den zweiten Blick ist NOPE ein kritischer Blick auf genau diese Art der Unterhaltung. Es ist ein Spektakel, welches das Spektakel selbst hinterfragt. Es stellt die Frage, warum wir nicht wegsehen können, indem es uns nicht wegsehen lässt. Der Twist liegt hier darin, dass die Protagonist*innen nicht vor dem UFO fliehen, sondern es verfolgen, es mit der Kamera einfangen wollen und so für die eigene Zwecke einspannen möchten. So dreht der Film das Spiel auf den Kopf. Auf einmal wird das Spektakel selbst zum Mittelpunkt und wenn das Spektakel zurückblickt, merken wir, wie selbstzerfleischend unsere Obsession damit ist. Peele bietet hier das ganz große Kino auf und stellt währenddessen noch den Anspruch, über unsere Sehgewohnheiten nachzudenken. Durch das selbstreflexive Spiel mit der Unterhaltungsindustrie ist man sich jedoch manchmal nicht ganz sicher, ob ein Witz sich selbst auf die Schippe nehmen will oder einfach schlecht geschrieben ist. So verliert sich der Film bisweilen in einem Wirrwarr aus übererklärenden Narrativen und high-concept Kritik. NOPE reicht also nicht an die sozialkritische Kohärenz von Peeles Meisterwerk Get Out heran, ist aber trotzdem eine imposante Lektion in Sachen filmischer Sprachgewalt.
8. Bones and All (Luca Guadagnino, Frenesy Film Company)
Nach A Bigger Splash, Call be by your Name und Suspiria zeigt Ausnahme-Regisseur Guadagnino ein weiteres Mal, wie er Genre-Gesetze seinen ganz eigenen Spielregeln unterwirft. In Bones and All vermischt er eine sensible coming-of-age-story mit einem Kannibalen-Horrorfilm. Klingt komisch, ist aber tiefergreifend. Neuentdeckung Taylor Russel spielt eine Jugendliche, die ihrer Natur nicht entkommen kann. Ihr Vater teilt ihre Gelüste für Menschenfleisch nicht und so muss sie sich bald alleine durchschlagen. Auf ihrer Reise verliebt sie sich in einen genauso hungrigen Jung-Kannibalen. Timothée Chalamet, der wie immer zum Anbeißen aussieht, verleiht dieser Rolle eine nonchalante Coolness. Seine Schmalzlocken und schmachtender Blick bieten aber gleichzeitig genug Projektionsfläche für romantische Fantasien, sodass man ohne Mühe ins Schwärmen gerät. Hin oder her, ob er Menschenfleisch zwischen den Zähnen stecken hat. Dem entsprechend ist der erste Kuss zwischen den beiden Misfits auch der beste aus dem letzten Filmjahr. Hierfür sitzen die Frischverliebten in einem Schlachthof über Hunderten von Kühen, die vor dem sicheren Tod zur Beruhigung klassische Musik vorgespielt bekommen. Es ist genau diese morbide Zärtlichkeit, die alle Bilder dieses Filmes durchdringt. Mit Haut und Haaren zu lieben ist ein bittersüßer Drahtseilakt, in dem man manchmal nicht weiß, ob man verschlungen wird oder selbst verschlingt. Bones and All ist ein verzauberndes Märchen, das hierauf keine moralisierende Antwort bietet, sondern eher einen tiefen Blick in die Abgründe der Liebe ermöglicht.
7. Licorice Pizza (Paul Thomas Anderson, Metro-Goldwyn-Mayer/Focus Features)
„Because it’s fun, Jen“ war Tarantinos Antwort auf die Frage einer Reporterin, weshalb seine Filme so gewalttätig seien. Bei Licorice Pizza könnte man sich eher fragen, warum man einen solchen nostalgischen Unterhaltungsfilm überhaupt drehen sollte. Die Geschichte erscheint schon hundertmal erzählt. Eine klassische Boy-Meets-Girl-Story. Doch die Antwort liefert der Film ganz alleine: Because it is so much damn fun. Gary Valentine (alleine der Name!) trifft Alana Kane. Er ist Kinderschauspieler, der seit seiner einsetzenden Pubertät merkt, dass ihm sein süßes Gesicht bald flöten geht und seine Tage als Kinderstar gezählt sind. Sie ist die 10 Jahre ältere und erwachsene Schulfotografin, in die er sich unsterblich verliebt, aber scheinbar keine Chance haben sollte, je für sich zu gewinnen. Paul Thomas Anderson erzählt diese Liebesgeschichte in episodenhaften Abenteuern, die die beiden im sonnendurchfluteten Los Angeles der 70er-Jahre widerfahren. Und in jedem absurden Abenteuer fühlt man diese grenzenlose Freiheit, mit der man nur durch die Welt geht, wenn man sich unbesiegbar und verliebt fühlt. Es ist eine herrlich naive Brille, durch die wir blicken dürfen. Für Gary und Alana werden selbst politische Ereignisse der Zeit, wie das drohende Ende der Welt und Öl-Embargos zu einer von zahlreichen Möglichkeiten, das Leben bei den Hörnern zu packen. Licorice Pizza ist eine nostalgische Atempause von der Realität. Ein filmischer Zaubertrick, der alle Zuschauer*innen im Kino wieder in pubertierende Romantiker verwandelt. Es ist der kitschige Traum von Amerika, den man für einen Augenblick wieder glauben möchte.
6. C’mon C’mon (Mike Mills, A24)
Dieser Film gleicht einer existenzialistischen Sinnesreise in Schwarzweiß. Joaquin Phoenix spielt einen in sich gekehrten Radiojournalisten, der durch Amerika reist, um Kinder zu allen möglichen Themen zu interviewen. Doch in seinem nuancierten Spiel merkt man schnell eine Schwere und Trauer, die ihn von anderen Menschen distanziert. Als jedoch seine Schwester ihn um Hilfe bittet und er für längere Zeit auf ihren Sohn Jesse aufpassen muss, bekommt sein routinierter Alltag eine Wendung. Er wird genauso wie wir von dem neunjährigen Jesse an die Hand genommen und sieht unsere Welt durch ganz neue Augen. Es könnte die klassische Geschichte eines gebrochenen Mannes sein, der das schöne Leben wieder für sich entdeckt. Doch Jesse ist genauso verloren mit sich und der unerklärlichen Frage seiner eigenen Existenz wie sein Onkel. So wird aus der Geschichte keine happy-go-lucky Erzählung, sondern eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Leben, das manchmal zu groß erscheint, als dass wir nicht davon erdrückt werden könnten. Die Chemie zwischen Joaquin Phoenix und Woody Norman, der Jesse mit einer umwerfenden Ernsthaftigkeit verkörpert, taucht selbst leicht pseudo-philosophischen Gesprächen in eine Gefühlswelt, mit der man nur zu gerne mitgeht. Das Spiel mit den anderen, weitestgehend von Laiendarsteller*innen verkörperten Nebenfiguren erdet die universellen Fragen, die dieser Film stellt, noch weiter und verleiht den Bildern eine vergängliche Schönheit. Mike Mills wunderbarer Kunstgriff, dann auch noch Zitate aus Essays oder Büchern in diesen Film wortwörtlich einzuschreiben, verwandelt C’mon C’mon in ein schillernd illustriertes Lexikon des Weltschmerzes.
5. Petite Maman (Céline Sciamma, Canal+/Cine+)
Obwohl dieses Kleinod schon auf der Berlinale 2021 Premiere feierte, wurde es in Deutschland erst ein Jahr später in die Kinos gebracht. Mit nur 70min Laufzeit und einem kleinen Kammerspiel-ähnlichen Setting wurde er aber leicht übergangen. Doch dieser Film ist von einer solch starken Sehnsucht erfüllt, dass, wenn man ihn gesehen hat, nicht mehr vergessen kann. Der Film beginnt in einem realistischen Rahmen: eine kleine Familie entrümpelt das alte Haus der verstorbenen Großmutter. Doch durch einen Kniff wandelt sich der Film in eine Fantasie — die zehnjährige Tochter der Familie trifft auf eine neue Spielgefährtin im Wald und realisiert, dass dies ihre eigene Mutter als Kind ist. Durch diese Zeitreise lernt sie ihre Mutter nicht als Mutter kennen, sondern auf eine Art und Weise, die man sich sonst nur erträumen kann. Sie lernen sich auf Augenhöhe kennen. In einem einfachen Trick wie diesem schlummert die ganze Magie des Kinos. So vermag ein kleiner, intimer Film solch große Emotionen auf die Leinwand zu bannen.
4. Triangle of Sadness (Ruben Östlund, Alamode)
Kotze, Scheiße und Kaviar. Für eine gefühlte Ewigkeit schaut man den superreichen Gästen einer Luxusjacht dabei zu, wie sie sich übergeben und vollscheißen. Es ist der Kinomoment des Jahres. Nach jedem neuen Kotzeschwall denkt man, es muss jetzt endlich vorbei sein. Doch die Kamera bleibt erbarmungslos auf die armen Kretins gerichtet, die sich in ihrem Überfluss winden. Der Witz wird ausgereizt, bis man allen Schmuck, alle Diamanten, alle Designer-Klamotten nicht mehr sieht, sondern nur noch das Fleisch und die Körperflüssigkeiten, die alle Menschen gemein haben. Das Geniale an Ruben Östlunds Palme d’Or Gewinner ist aber, dass ihm trotz solcher satirischen Überzeichnungen eine nuancierte Gesellschaftskritik gelungen ist. Es wird nicht mit schwarz-weißer Tusche gemalt, sondern hier sind wirklich alle Figuren ihr eigener Abgrund. Egal ob Arm oder Reich. Das merkt vor allem ab dem Mittelpunkt des Filmes. Die geordnete Weltordnung bricht auf einer einsamen Insel zusammen. Doch die neue Hierarchie, welche die ehemalige Arbeiterklasse nun als Herrscher*innen etabliert, errichtet kein Utopia. Die Ausgebeuteten werden zu Ausbeutern und führen den gleichen Machtmissbrauch weiter. Die Form des Films bezieht aber nie eine moralische Position. Wir bleiben mit der starren Kameraführung in der Position einer Wissenschaftler*in, die neue Variablen und ihre Wirkung in einem Testbiotop beobachtet. Der Film nimmt alle und alles in unserer konsumgesteuerten Welt gekonnt aufs Korn, aber erhebt sich nie darüber. So verwandelt sich das anfängliche Lachen in eine zähnefletschende Grimasse, die über die Leinwand hinweg ihr Spiegelbild erkennt.
3. Aftersun (Charlotte Wells, A24/Mubi)
Bei der Kinovorführung dieses Filmes riecht man die Sonnencreme am Strand, schmeckt das Chlor des Swimmingpools und spürt die Laufbahn von Tränen, die nie zu trocknen scheinen. Aftersun folgt einer elfjährigen Tochter auf der ersten Urlaubsreise mit ihrem Vater nach der Scheidung ihrer Eltern. Es ist irgendwann in den späten 90ern. Sie reisen in ein all-inclusive Hotel in der Türkei. Doch es könnte auch überall sonst wo auf der Welt sein. Denn die einzige Sprache, die man hört, ist die der ebenfalls britischen Touristen. Aber Zeit und Ort könnten nicht egaler sein. Es sind die kleinen Momente, die Charlotte Wells hier wie im Bernstein der kindlichen Erinnerungen gegossen hat. Jedes Detail ein einzigartiger Stein, der aus den Minen des Autobiografischen geschürft wurde und nun eine Fiktion veredelt und zum Leben erweckt. Die Handlung verliert sich zwischen müden Tagen am Pool und lauten Abenden am Buffet. Es ist viel mehr ein Gefühl, das hier entsteht, als eine Geschichte. Eine Sehnsucht, die Vergangenheit zu verstehen. Das Digi-Cam Material, welches Tochter und Vater in ihrem Urlaub einfangen, wird in fragmentarischen Momenten von der nun erwachsenen Tochter in der Zukunft geschaut. So verwandelt sich jeder Augenblick der scheinbaren Gegenwart zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Selbst spontane Schnappschüsse gewinnen an einem Gewicht, das den sonst so sonnigen Film in ein bedrückendes Andenken verwandelt. Es wird nie ausgesprochen, welches Rätsel die erwachsene Tochter in dieser Erinnerung zu entziffern versucht. Doch die emotionale Tiefe, die in jedem Bild mitschwingt, lässt viele Interpretationen gegenüber der Beziehung von Tochter und Vater zu. Charlotte Wells ist in ihrem Spielfilmdebüt ein Meisterwerk gelungen, das unser ungreifbares Verhältnis mit der eigenen Vergangenheit erlebbar macht. Aftersun wirkt nach wie ein leichter Sonnenbrand an der Stelle am Rücken, wo man vergessen hat, Sonnencreme aufzutragen.
2. The Worst Person in the World (Joachim Trier, MK Productions)
Alle Figuren in diesem Film fühlen sich kurzfristig wie der schlimmste Mensch der Welt, aber trotzdem liebt man sie alle. Joachim Trier spinnt ein Beziehungsdrama in verschiedenen Konstellationen mit Julie, unglaublich gespielt von Renate Reinsve, als Mittelpunkt. Sie ist eine lebenshungrige Frau ende zwanzig, die sich von Hobby zu Job und zurück hangelt. Der Film folgt ihr durch alle Höhen und Tiefen, die sie während zwei romantischen Beziehungen erlebt. Beide Männer lernt man genauso tief kennen und lieben wie sie. Und trotzdem versteht man ihre wachsende Unglücklichkeit, die sie immer wieder einholt, egal wie sehr ihr Partner für sie kämpft. In dem letzten Teil seiner Oslo-Trilogie macht Trier somit die Zeit als ewigen Gegenspieler der Liebe fest. Egal wie perfekt die andere Person anfangs für Julie erscheint, beide treffen sie einfach nicht zum richtigen Zeitpunkt. Und sobald Julie sich auf eine andere Zeitebene bewegt, ist sie für ihren Partner nicht mehr zu greifen, so als wäre sie nicht mehr da. Jede Trennung wird eine herzzerreißende Liebeserklärung an die Liebe selbst und ihre ganz eigene bittersüße Tragik. Es ist die Unzeitlichkeit der Dinge, die Julie im Weg steht, aber trotzdem immer weitertreibt. Trier fängt dieses Gefühl mit einem spielerischen Ideenreichtum ein, der selbst den schwersten Momenten eine magische Leichtigkeit verleiht. Ganz so, als würde man sich im Trennungsprozess neu verlieben. Er hält die Zeit an und lässt Julie durch ein eingefrorenes Oslo rennen, er lässt ihre Haut in Sekunden magisch altern, er jagt uns im Zeitraffer durch ganze Stammbäume und bleibt trotz all dieser Ausgefallenheiten immer ganz nah an Julie dran. So nahe, dass wir uns in ihr wiedererkennen, egal ob ihre Entscheidungen sie gerade zum schlimmsten Menschen der Welt macht oder nicht.
1. Everything Everywhere All at Once (Daniel Kwan & Daniel Scheinert, A24)
Hotdog-Würste als Finger, existenzialistische Steine, ein Waschbär als Chefkoch… Die Daniels haben in diesem Film eine absurde Welt geschaffen, in der wirklich alles möglich ist und trotzdem nichts willkürlich. Im Herzen der Geschichte ist es ein Familiendrama, deren vielseitigen Dynamiken aber durch eine endlose Fülle an Genre-Kreuzungen ergründet wird. Zuerst einmal durch eine ordentliche Prise Sci-Fi, da die Familie in Frage der Auslöser für einen Krieg zwischen allen parallel existierenden Universen ist. So gibt es endlose Variationen der gleichen Familie und ihre scheinbar unersetzbaren Probleme. Egal ob in der Form eines Kung-Fu-Martial-Arts-Filmes, oder in der Ausarbeitung der Hong-Kong-New-Wave, oder als Animationsfilm — die grundlegenden Differenzen der Familie bleiben die Gleichen. In einer fast manischen Schnelligkeit wird man so mit immer wechselnden Szenerien, Kostüme, Charakteren und ganzen Welten konfrontiert. Diese Flicker-artige Montage ist genauso hypnotisierend wie zermürbend. Doch genau darin liegt ihre Intention. Wir erleben den Widerspruch unserer modernen Existenz. In einer Welt, in der wir alles sein können, wissen wir nicht, wie wir gemeinsam miteinander sein können. Die Erkenntnis, dass nichts Sinn ergibt, sollte uns eigentlich befreien, doch die endlosen Möglichkeiten, die sich vor uns auftun, bleiben sinnbefreit ohne dem Gefühl der Verbundenheit und Akzeptanz. Die Verbildlichung der endlosen Möglichkeiten bietet den Daniels eine geniale Grundlage Abertausende ihrer Ideen in einen Film zu pressen, sodass man jeden Moment glaubt, man drohe den Überblick zu verlieren. Diesen Überfluss an Ideen immer wieder stringent zu einem emotionalen Kern zurückzuführen, hält den überquellenden Rahmen jedoch genial zusammen. Everything Everywhere All at Once ist ein maximalistisches Meisterwerk, das eine emotional zugängliche Bildsprache für unsere entrückte Gegenwart entworfen hat. Vor allem das geniale Zwischenspiel von VFX-Technik und Geschichte zeigt einen neuen Weg des Erzählens auf und macht Hoffnung auf eine sich neuerfindende Kinolandschaft.
Setz dich niemals in ein Auto, wenn Claude Lelouch am Steuer sitzt. Sein Kurzfilm “C’était un rendez-vous” dient hierfür als beste Warnung. In knapp neun Minuten rasen wir in einer einzigen Einstellung mit dem französischen Regisseur durch die Pariser Straßen bei Morgengrauen. Die Kamera ist auf der Motorhaube angebracht und blickt die ganze Zeit über starr gen Fahrtrichtung. Asphalt jagt an uns vorbei. Die einzige Musik ist der Takt des aufheulenden Motors und quietschenden Reifen. Man spürt den Fahrtwind regelrecht.
Es ist eine solch halsbrecherische Fahrt, dass man jeden Augenblick mit einem Unfall rechnet. Passanten müssen aus dem Weg springen. Tauben entkommen der mörderischen Maschine nur haarscharf und verschwimmen im Licht der Scheinwerfer. Entgegenkommende Autos werden zu Projektilen — ein jedes mit dem Potenzial, diese Fahrt zu einem tödlichen Ende zu bringen. Es ist eine atemberaubende Plansequenz. Doch geplant ist hier nichts. Denn die Passanten müssen wirklich um ihr Leben fürchten und die hupenden Autos werden nicht von Stuntfahrer*innen gefahren. Lelouch hat die Wirklichkeit als Rennstrecke auserkoren. Dieser fragwürdige Übergriff des Filmemachers auf reale Umstände, diese Überspitzung des Cinéma Vérités, hat aber einen unglaublichen Effekt. Man wird mitgerissen, jede Kurve besitzt ihren eignen Spannungsbogen, den man atemlos beobachtet. Gleichzeitig wird so eine Sache ganz deutlich: die Person am Steuer hat ein klares Ziel vor Augen. Lelouch Kurzfilm verdichtet absolute Dringlichkeit in einer Einstellung. Und während das Auto die Straßen weiter herunter donnert, beginnt somit ein ganz eigener Film in den Köpfen des Publikums zu spielen.
So ging es jedenfalls mir. Ich fing an, mich zu fragen, wohin dieser Verrückte so schnell muss. War er auf der Flucht von einem Banküberfall? Lag ein angeschossener Komplize blutend auf dem Beifahrersitz? Je länger der Film dauerte, desto mehr fing meine Fantasie an, ins Detail zu gehen. Ich begann mir vorzustellen wie die mögliche Fahrer*in dieser Geschichte, die in meinen Kopf ablief, wohl aussieht. Am Ende des neunminütigen Höllenritts bekommt man darauf fast eine Antwort. Das Auto kommt quietschend zum Halt, davor kommt eine junge Frau ins Bild gelaufen. Wir hören die Autotür aufgehen und sehen den Fahrer auf sie zulaufen. Sie umarmen sich — die Titelblende verrät: Er war nur für sie, für dieses Rendezvous, wie ein Berserker durch die Stadt gerast. Doch den Fahrer sieht man nur von hinten, sein Gesicht bleibt ein Rätsel. Seine besondere Art der Liebeserklärung löst den wilden Adrenalinritt mit einem Lacher auf und trotzdem geht mir dieser Kurzfilm nicht mehr aus dem Kopf. Oder viel eher der Film, der in meinem Kopf ablief. Der Film, der nicht auf die Straße blickte, sondern mit jeder Kurve, mit jeder ignorierten roten Ampel das Gesicht des unsichtbaren Fahrers vor meinem inneren Auge deutlicher werden ließ.
Es ist diese Art des Unsichtbaren, das mich fasziniert, das sich bei mir festsetzt und nicht mehr loslässt. Genau das ist die Arbeit einer Filmemacher*in — das Unsichtbare in den Köpfen des Publikums sichtbar machen. Doch um meine Besessenheit zu mildern, um diesen unsichtbaren Fahrer endlich aus meinen Gedanken loszuwerden, will ich das Gegenteil versuchen. Ein Experiment wagen: Ich will ein Phantombild von meinem imaginären Fahrer kreieren. Vielleicht erlaubt dieser Prozess des Erkenntlich-Machens meiner zermarternden Fantasie endlich eine Pause einzulegen, das Phantom einzufangen, das Unsichtbare zu greifen.
Die Jagd auf das Unsichtbare beginnt mit dem Versuch einer Beschreibung:
In meinen Augen ist der Fahrer fast 40 Jahre alt. Doch sein Wagemut lässt ihn unverhofft jünger aussehen, solange er ihn nicht ins Grab bringt. Er sieht eher wie 30 aus. Seine schwarzen, öligen Haare würden ihm bis zum Kinn reichen, wenn sie nicht nach hinten geworfen wären. Nur eine fettige Strähnen fällt ihm immer wieder ins Gesicht. Dadurch sieht seine Stirn wie eine steile Felswand aus, an der nur eine einzige Liane sich halten konnte. So groß seine Neandertalerstirn ist, so groß sind auch die zwei tiefen Furchen, die sich bis zur Nase entlangziehen, wenn er konzentriert die Augen zukneift. Seine Augen funkeln unter dem Schatten dieser Stirn umso stärker. Sie sind ein helles Braun und durchdringen alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Es ist eine kalte Intelligenz, die aus ihnen spricht und alles, was sie sich einverleiben, bleibt akkurat kalkuliert zurück, so als hätte es nur dank seines Blickes den rechten Platz im Universum eingenommen. Seine Nase steht im krassen Verhältnis zu seiner Stirn. Sie ist schmal und zerbrechlich und verleiht seinem Gesicht eine unerwartete Eleganz, die im Gegensatz zu der rohen Kraft seiner restlichen Züge steht. Bei jeder riskanten Kurve fallen die Nasenflügel in sich zusammen und blähen sich je wieder auf, wie das Stoßgebet eines Irren. Seine Lippen sind fest zusammengepresst, doch wenn er lächeln würde, könnte man sehen, dass die Oberlippe schief auf die Unterlippe aufliegt. Sein restliches Gesicht ist aber symmetrisch. Seine Wangenknochen laufen in einem markanten Kinn zusammen, an dessen Scheitelpunkt eine kleine Kerbe nach innen drückt. Ein Dreitagebart mit vereinzelten grauen Haaren übersäht sein Gesicht. Das ist er, wie ich ihn mir im Kino vorgestellt habe und seit dem nicht mehr vergessen kann.
Um das Phantom aber endgültig zu greifen, bedarf es aber Hilfe von jemanden viel Talentierterem. Jemanden, der diese Beschreibung in ein Bild verwandeln könnte. Im Austausch mit Mayra, einer Kommilitonin an der HFF München, die selbst auch Filmemacherin ist, ist genau das passiert. Als VFX-Künstlerin besitzt sie eine unglaubliche Aufmerksamkeit zum Detail und entwirft lebendige Charaktere im Minutentakt. Ich schätze mich sehr glücklich, dass sie ihre künstlerischen Fähigkeiten zur Verfügung gestellt hat, um dieses Phantombild meines Rennfahrers anzufertigen:
Sein Name ist André. Er ist der andere. Nicht der, der in Wirklichkeit am Steuer dieser Höllenfahrt saß. Sondern der, der nur in meiner Vorstellung das Lenkrad übernimmt. Der Phantom-Fahrer, dessen Bild nur in mir entstand und in der Imagination einer jeden Zuschauer*in wohl ganz anders aussieht. Aber dank der Hilfe von Mayra kann ich ihn nun endlich ziehen lassen und mich dem nächsten Phantom zuwenden, das mir auf einer Leinwand begegnet.
LG vom LG
(Louis Gering)
Mayra Ebensen ist Künstlerin und zukünftiger Visual Effects Artist. Sie studiert aktuell an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Um Duchamp zu zitieren: art is an idea, usually a bad one.
CHRISTIAN SCHWOCHOW: Kannst du trotzdem nochmal zum Schluss – auch wenn du es in der Vergangenheit schon mal gesagt hast – noch einmal formulieren, was du dem deutschen Kino wünschst?
DOMINIK GRAF: Ich würde ihm wünschen, dass eine Reihe kommt, eine Generation oder – also es muss jetzt nicht unbedingt eine junge Generation sein, aber vielleicht schaffen es nur die – irgendeine Welle von Filmen, die sich um nichts mehr scheren, die wirklich Publikum, Einspielquoten – alles scheißegal: „Wir machen das so“.
Die müssen natürlich relativ billig anfangen, weil sie nicht so viel Geld dafür kriegen, wenn sie da loslegen. Aber die müssen ebenso trivial, brutal sein wie auch elitär, gewisserweise, die müssen wirklich das machen, was sie wirklich wollen und niemanden fragen, ob sie das machen dürfen.
Das wär eigentlich wie so eine Frischspritzkur, das was ich dem deutschen Film am meisten wünschen würde. Auch wenn das dann auch wieder in Vorgremien der Hauptgremien irgendwie aus dem Fenster fliegt – von mir aus – aber es muss Filme geben, die einfach anders sind, als die Filme, die im Moment gemacht werden in ihrer Breite. Von den einzelnen herausragenden Beispielen ganz abgesehen. Die gibt es natürlich immer.
Close Up Podcast, Staffel 2, Folge 1: Dominik Graf, 10.10.2018.