IN SHOCK, MR. DOLLAR BILL REALIZES:

the same tiger sits in your hooker’s bed and your daughter’s toystore

Ich machte mir ein wenig Sorgen, zum ersten Mal mit meinem Freund Eyes Wide Shut zu schauen. Es fallen mir wenige Filme ein, die einer gewissen Wahrheit so nahestehen wir Kubricks letzter Film. Eine Wahrheit so enigmatisch und destilliert zugleich, dass sie trotz ihrer fiktiven Natur die Kraft besitzt, reelle Strukturen zu stabilisieren – oder zum Einsturz zu bringen. Demgemäß war ein Ringen um nichts minder als Chaos und Ordnung unvermeidbar.

Alles verlief friedlich bis zum Domino-Effekt. Nicole Kidman hatte gerade vermutlich die gefährlichste Szene ihres Lebens abgeliefert, in der sie als berauschte Alice ihren Wunsch zur Untreue offenbart. Selbstverständlich besucht Mr. Dollar Bill (Tom Cruise) daraufhin eine Straßen-Prostituierte namens Domino. In ihrer Wohnung angelangt, kämpft Bill mit der Versuchung, treu zu bleiben. Seine Entscheidung, nicht mit Domino zu schlafen, zahlt sich aus, denn später erfahren wir: Domino ist HIV-positiv. Jetzt liegt sie noch unwissend im Bett, während links von ihr ein Stofftier-Tiger ins Bild ragt. Ich erinnere mich an meine Stofftiere, an unseren Tiger im Wohnzimmer. Ich stelle mir vor, wie Domino vielleicht diesen Tiger gemeinsam mit einer Freundin gekauft hat, um ihr kleines Zimmer mit Nachdruck zu füllen, um nicht alleine mit fremden Männern das Bett zu teilen. Es ist nicht das letzte Mal, dass uns dieser Tiger begegnet. Der Tiger findet sich ein weiteres  Mal in der letzten Szene des Films wieder. In dieser Szene gehen Bill und Alice für ihre kleine Tochter, Helena, Weihnachtsgeschenke kaufen. Im Hintergrund türmen sich Dutzende von den gleichen Tigern aus Dominos Wohnung. Zufall oder Intention?

Aufgeregt erkläre ich – die, der seit einem Jahr im Montage-Studium der DFFB die Filmanalyse ins Herz gepflanzt wurde –  meinem Freund die Deutungsmöglichkeiten dieses Tigers. So lässt sich dieser doch als ein Symbol für – sagen wir – den Raub der Unschuld lesen. Ein Raub, der die Ehe von Bill und Alice plagen wird. Doch noch eine viel spannendere These drängt sich auf: Vielleicht hat der Tiger es nicht auf die beiden, sondern auf ihre Tochter abgesehen.

Angesichts der Tatsache, dass der Film um die Überzeugung gebaut ist, dass der eigene Gesellschaftsstatus und die damit einhergehende sexuelle Freiheit, ein fragiler ist, lässt sich diese existenzielle Frage im Bezug zur eigenen Familie nicht wegdenken. Die Wiederkehr des Tigers stellt Helenas Rolle im Film zur Diskussion. Ist ein Kind in einem globalen Establishment, in dem die kommodifizierte Entmenschlichung und der Großhandel von Tod und besitzergreifender Abhängigkeit allgegenwärtig sind, wirklich sicher? Die Erinnerung an die Realität einer Prostituierten ist schließlich auch in den familiärsten Orten zu finden. Was trennt seine Tochter und Domino vom gleichen Schicksal, wenn nicht Geld? Für mich handelt es sich hierbei um eine plausible These, die einem die Entschlüsselung von Eyes Wide Shut ermöglicht. Eine Entschlüsselung, nach der ich strebe, um heute Nacht ruhig schlafen zu können.

Mein Freund (mein größter Feind in Sachen der prätentiösen Überinterpretation und Sohn einer Außenrequisiteurin) vertritt jedoch einen besonneneren Standpunkt: den des menschlichen Irrtums und Zufalls in der Filmproduktion. Es ist es doch meist der Fall, dass Requisiten wiederholt im selben Film verwendet werden, um Lücken zu füllen, die nicht vorhersehbar waren. In diesem Fall könnte die unvorhersehbare Lücke Dominos Zimmer sein, die seiner These zufolge erst nach der letzten Szene gedreht worden sein musste. Beim Einrichten der Halbnahen von Domino auf dem Bett wäre jemandem aufgefallen, dass das Bett zu leer gestaltet ist. Das Setdesign-Department oder Kubrick entsannen sich, noch stapelweise Tiger parat zu haben und platzierten einen von ihnen auf dem Bett. Schließlich unterscheidet sich die Konzeption eines Films und der Film selbst in den Grenzen der Produktionsbedingungen.

Ich sträube mich. Meine Geduld reißt und ich schimpfe, dass Zufälle den Astronomen und Biologen gehören, doch nicht aber einem gottverdammten Kubrickfilm. Zu berüchtigt ist er, jeden Frame aufs Genaueste zu gestalten, Schauspieler einer Tortur von nie endenden Takes auszusetzen und in diesem Fall gar New York von Grund auf in einem Londoner Studio nachzubauen. Ein Film, der den Weltrekord für den längsten kontinuierlichen Filmdreh hält und potenziell Kubricks Tod eingeleitet hat, wird wohl unmöglich einen Fehler enthalten.

Mein Behind-The-Scenes-Trivia beeindruckt meinen Freund nicht. Ich zücke mein Handy, wie es sich in einer gesunden Beziehung gehört. Die Verschwörungen häufen sich: Freimaurer, Epstein und Co. – alle sind beisammen. Ein Großteil dieser Theorien sind wohl haltlose Nebenprodukte des Kubrick-Mythos. Meine jedoch scheint sich selbstverständlich zu bewähren, denn ein weiteres Indiz offenbart sich. Es ist ein Fund, welcher meinen Triumph festigt. So wiederholt sich in der vorletzten Einstellung der letzten Szene nämlich nicht nur der Tiger, sondern auch drei weitere Figuren. Es sind zwei alte Männer und ein junger Kellner, die zuvor auf Zieglers (Sydney Pollack) Party zu sehen sind.

Nicht nur tauchen diese alten, bürgerlichen Männer von der Party wieder auf, einer Party, die dem elitären Hedonismus frönt, sondern sie gehen Helenas Verschwinden voraus. Man sieht, wie sie einen Teddy in ein Regal zurücklegen, was Helena dazu veranlasst, zu ihnen zu gehen. Alice und Bill berühren ein letztes Mal ihr Haar, während sie an ihnen vorbeigeht. Bill ist der Erste, der sie aus den Augen verliert. Ihre Tochter steht genau in der Mitte zwischen ihnen, während sie sich wieder ihrer Ehekrise widmen. Sie dreht sich ein letztes Mal, um ihre Eltern anzusehen, bevor sie den beiden Männern aus der Szene folgt. Sicherlich kann die Bedeutung des Tigers jetzt nicht mehr bestritten werden!

Mit dieser Information konfrontiert, ist mein Freund jedoch nur für einen Moment in seiner Überzeugung geschwächt: “Teri, [ich paraphrasiere] der Mythos des Genies ist eine Farce. Ein unfehlbarer Gott in der Kontrolle des Mikrokosmos Film existiert nicht. Deine Suche nach Bedeutung und Kreation ist kläglich christlich. Kubrick war talentiert, aber kein Feind des Zufalls. Immerhin hat er bei The Clockwork Orange die Wiederholung des Lieds „I’m singing in the rain“ am Set improvisiert. Kubrick war nicht gegen den Zufall immun. Wie erklärt man sich sonst den Anschlussfehler?“

Den Anschlussfehler? Tatsächlich hatte mein Freund den Fehler in dem Moment, als er geschah, ausgerufen. Nicht nur bezieht er sich auf seine Erfahrungen in der Außenrequisite, sondern auch auf seine Erfahrung als Skript-Continuity. Üblicherweise sind diese detaillierten Beobachtungen von ihm ein spaßiger Zusatz beim gemeinsamen Filmschauen. In diesem Stadium des Streits ist eine solche Enthüllung jedoch bitter. Ja, der Anschlussfehler geschieht im ersten Auftritt des Tigers bei Domino. Es gibt eine Halbnahe auf Domino, in der der Tiger mit dem Gesicht der Kamera zugewandt ist. Bill beendet sein Gespräch und setzt sich neben Domino und den Tiger, welcher nun – naja – verkerhtherum auf dem Bett sitzt. Mein Freund wettert: Würde der Tiger eine so wichtige Rolle spielen, wie ich sie ihm unterstelle, wäre diese Requisite ein sehr präsentes und bewusstes Element bei den Dreharbeiten gewesen. Meinem so hochgepriesenen Stanley Kubrick wäre ein solcher Anschlussfehler sicherlich nicht unterlaufen.

Der Gleichstand kratzt, denn es gibt noch weitere Möglichkeiten, meine Lesung zu verteidigen. Warum wurde die Endszene, die in Schnitzlers Traumnovelle bei den Harfords endet, in ein Einkaufszentrum verlegt? Warum, warum, warum? Das Mysterium von Eyes Wide Shut und Dominos Tiger lässt mir keine Ruhe. Schließlich glaube ich nicht, dass die Beantwortung der Tigerfrage mich wirklich befriedigen würde. Sollte Kubrick irgendwann aus seinem Grab auferstehen und mir eine präzise Antwort geben, würde die Befriedigung wohl bloß so tief gehen, wie Zieglers Aufklärung der Maskeradenveranstaltung. Ich behaupte, dass keine eindeutige Antwort den Hunger stillen kann. Kubrick selbst sagte: „Wenn man wirklich etwas mitteilen will, und sei es nur ein Gefühl oder eine Einstellung, geschweige denn eine Idee, dann ist der direkte Weg der am wenigsten effektive und am wenigsten angenehme. Es geht nur etwa einen Zentimeter hinein. Aber wenn man es schafft, die Leute an einen Punkt zu bringen, an dem sie einen Moment darüber nachdenken müssen, worauf man hinaus will, und es dann entdecken, dann geht der Nervenkitzel der Entdeckung direkt durchs Herz.“

Die Eindeutigkeit ist ein Trugschluss. Es ist die präzise Unklarheit, die Kubricks Arbeit so anziehend macht. Eine nahezu universelle Einigkeit findet sich in der öffentlichen Rezeption seiner Filme gerade wegen des Enigmas. Kubrick ist nicht daran interessiert, seine Realität als die eine Wahrheit zu präsentieren, sondern die Wahrheit im Kampf verschiedener Realitäten zu suchen. Er macht Filme über getriebene Menschen, die dieses Ideal der einen Wahrheit zu stürzen bestrebt sind. Es sind solche, die immer nach dem Horizont streben und stattdessen mit dem Tatsächlichen konfrontiert werden. Es scheint mir, als läge die Wahrheit des Tigers im Limbo. Letztendlich ist die Möglichkeit beider Realitäten die einzig reelle Erkenntnis, die man aus ihrem Kampf ziehen kann. Die Fantasie der idealen Filmplanung einerseits, die unkontrollierbare Natur des Filmsets andererseits. Die Fantasie der Sex-Eskapaden oder die natürliche, fehlerhafte Liebe einer Ehe. Unsere Wahrheit befindet sich womöglich im Zwischenraum dieser beiden Realitäten. Wir sind für immer gefangen zwischen dem geordneten Ideal und der chaotischen Natur. Für immer im gemeinsamen Freifall…

Hinterlasse einen Kommentar