Im September 1978 hielt Godard eine Vorlesungsreihe über die Geschichte des Kinos vor drei, vier Studierenden in Montreal. Dort sagt er:

Dauernd wird vom Publikum geredet, ich kenne es nicht, ich sehe nicht, ich weiß nicht wer das ist. Angefangen, ans Publikum zu denken, habe ich wegen der großen Misserfolge, wegen der enormen Misserfolge zum Beispiel bei „Les Carabiniers“, den sich in fünfzehn Tagen nur achtzehn Leute angeschaut haben. Achtzehn – ich habe mich nicht verzählt, so weit kann ich schließlich zählen. Da habe ich mir dann gesagt: Wer zum Teufel sind diese achtzehn, das möchte ich gern wissen. Diese achtzehn Personen, die gekommen sind, ihn sich anzuschauen, die hätte ich gerne gesehen, ich hätte gerne ihr Bild gesehen. Das war das erste Mal, dass ich wirklich ans Publikum gedacht habe. Da konnte ich ans Publikum denken. Ich glaube nicht, dass Spielberg ans Publikum denken kann. Wie kann man an zwölf Millionen Zuschauer denken? Sein Produzent kann an zwölf Millionen Dollar denken, aber an zwölf Millionen Zuschauer zu denken, das ist einfach unmöglich. Oder aber es gibt Leute, die genau wie er dachten – man muss sehen, wer diese Leute sind. Und wenn ich meine Tochter sehe, die nicht fünf Minuten von einem Film erträgt, den ich gemacht habe, aber Stunden um Stunden um Stunden Reklame und amerikanische Serien erträgt, das macht mir schon was. Ich sage mir: es hat keinen Zweck… Am liebsten würde ich ihr dann manchmal nichts zu essen kaufen. Das ist ein Moment, da denke ich ans Publikum, da habe ich eine enge Beziehung zu ihm.

Und später dann:

Aber auch, wenn man Filme für drei oder vier Leute macht, kommt es vor, daß man nicht mal diese drei oder vier erreicht. Wenn die Sendungen, die ich mache, im Fernsehen laufen, schaut meine Tochter sie sich nicht an. Sie schaut Muppet Show an oder sonstwas. Und ich auch, also kann ich es ihr nicht mal übelnehmen. Aber manchmal… Zu sehr isoliert zu sein…

Was sind Spielbergs zwölf Millionen gegen das Mädchen vor der Muppet Show?

Im Interview mit Bert Rebhandl für die Cargo sagt Abbas Kiarostami im Jahr 2012, dass er für seinen nächsten Film auf eine Erinnerung zurückgreifen werde, die bereits 35 Jahre zurückliegt. Er sagt, dass er den Film aller Wahrscheinlichkeit nach in Italien drehen werde und, dass es um eine Frau geht, die vor 70 Jahren ihren Ehemann ermordet hat. Nun ist 94 Jahre alt.

Kiarostami starb vier Jahre später. Er konnte die Dreharbeiten nicht beginnen. Als Relikt vergangener Zukunftspläne geistert seine Antwort durch das Netz. Kiarostami sprach oft davon, dass ihn bloß die ‚halben Filme‘ interessieren, solche Filme, die ihrem Publikum den Raum geben, die Lücken mit ihren Tagträumen zu füllen.

Deleuze schreibt: „Eine Leinwand kann völlig bemalt sein, so daß nicht einmal mehr Luft durchdringt – ein Kunstwerk ist sie doch nur, wenn sie, wie der chinesische Maler sagt, genug Lücken läßt (und sei es durch die Vielfalt von Ebenen), damit dort Pferde herumtollen können.“

Nun ist Kiarostami letzter Film nichts als Lücke, nichts als Geheimnis. An uns, den Ehemord tagzuträumen, ohne Kiarostami dabei Unrecht zu tun –

the same tiger sits in your hooker’s bed and your daughter’s toystore

Ich machte mir ein wenig Sorgen, zum ersten Mal mit meinem Freund Eyes Wide Shut zu schauen. Es fallen mir wenige Filme ein, die einer gewissen Wahrheit so nahestehen wir Kubricks letzter Film. Eine Wahrheit so enigmatisch und destilliert zugleich, dass sie trotz ihrer fiktiven Natur die Kraft besitzt, reelle Strukturen zu stabilisieren – oder zum Einsturz zu bringen. Demgemäß war ein Ringen um nichts minder als Chaos und Ordnung unvermeidbar.

Alles verlief friedlich bis zum Domino-Effekt. Nicole Kidman hatte gerade vermutlich die gefährlichste Szene ihres Lebens abgeliefert, in der sie als berauschte Alice ihren Wunsch zur Untreue offenbart. Selbstverständlich besucht Mr. Dollar Bill (Tom Cruise) daraufhin eine Straßen-Prostituierte namens Domino. In ihrer Wohnung angelangt, kämpft Bill mit der Versuchung, treu zu bleiben. Seine Entscheidung, nicht mit Domino zu schlafen, zahlt sich aus, denn später erfahren wir: Domino ist HIV-positiv. Jetzt liegt sie noch unwissend im Bett, während links von ihr ein Stofftier-Tiger ins Bild ragt. Ich erinnere mich an meine Stofftiere, an unseren Tiger im Wohnzimmer. Ich stelle mir vor, wie Domino vielleicht diesen Tiger gemeinsam mit einer Freundin gekauft hat, um ihr kleines Zimmer mit Nachdruck zu füllen, um nicht alleine mit fremden Männern das Bett zu teilen. Es ist nicht das letzte Mal, dass uns dieser Tiger begegnet. Der Tiger findet sich ein weiteres  Mal in der letzten Szene des Films wieder. In dieser Szene gehen Bill und Alice für ihre kleine Tochter, Helena, Weihnachtsgeschenke kaufen. Im Hintergrund türmen sich Dutzende von den gleichen Tigern aus Dominos Wohnung. Zufall oder Intention?

Aufgeregt erkläre ich – die, der seit einem Jahr im Montage-Studium der DFFB die Filmanalyse ins Herz gepflanzt wurde –  meinem Freund die Deutungsmöglichkeiten dieses Tigers. So lässt sich dieser doch als ein Symbol für – sagen wir – den Raub der Unschuld lesen. Ein Raub, der die Ehe von Bill und Alice plagen wird. Doch noch eine viel spannendere These drängt sich auf: Vielleicht hat der Tiger es nicht auf die beiden, sondern auf ihre Tochter abgesehen.

Angesichts der Tatsache, dass der Film um die Überzeugung gebaut ist, dass der eigene Gesellschaftsstatus und die damit einhergehende sexuelle Freiheit, ein fragiler ist, lässt sich diese existenzielle Frage im Bezug zur eigenen Familie nicht wegdenken. Die Wiederkehr des Tigers stellt Helenas Rolle im Film zur Diskussion. Ist ein Kind in einem globalen Establishment, in dem die kommodifizierte Entmenschlichung und der Großhandel von Tod und besitzergreifender Abhängigkeit allgegenwärtig sind, wirklich sicher? Die Erinnerung an die Realität einer Prostituierten ist schließlich auch in den familiärsten Orten zu finden. Was trennt seine Tochter und Domino vom gleichen Schicksal, wenn nicht Geld? Für mich handelt es sich hierbei um eine plausible These, die einem die Entschlüsselung von Eyes Wide Shut ermöglicht. Eine Entschlüsselung, nach der ich strebe, um heute Nacht ruhig schlafen zu können.

Mein Freund (mein größter Feind in Sachen der prätentiösen Überinterpretation und Sohn einer Außenrequisiteurin) vertritt jedoch einen besonneneren Standpunkt: den des menschlichen Irrtums und Zufalls in der Filmproduktion. Es ist es doch meist der Fall, dass Requisiten wiederholt im selben Film verwendet werden, um Lücken zu füllen, die nicht vorhersehbar waren. In diesem Fall könnte die unvorhersehbare Lücke Dominos Zimmer sein, die seiner These zufolge erst nach der letzten Szene gedreht worden sein musste. Beim Einrichten der Halbnahen von Domino auf dem Bett wäre jemandem aufgefallen, dass das Bett zu leer gestaltet ist. Das Setdesign-Department oder Kubrick entsannen sich, noch stapelweise Tiger parat zu haben und platzierten einen von ihnen auf dem Bett. Schließlich unterscheidet sich die Konzeption eines Films und der Film selbst in den Grenzen der Produktionsbedingungen.

Ich sträube mich. Meine Geduld reißt und ich schimpfe, dass Zufälle den Astronomen und Biologen gehören, doch nicht aber einem gottverdammten Kubrickfilm. Zu berüchtigt ist er, jeden Frame aufs Genaueste zu gestalten, Schauspieler einer Tortur von nie endenden Takes auszusetzen und in diesem Fall gar New York von Grund auf in einem Londoner Studio nachzubauen. Ein Film, der den Weltrekord für den längsten kontinuierlichen Filmdreh hält und potenziell Kubricks Tod eingeleitet hat, wird wohl unmöglich einen Fehler enthalten.

Mein Behind-The-Scenes-Trivia beeindruckt meinen Freund nicht. Ich zücke mein Handy, wie es sich in einer gesunden Beziehung gehört. Die Verschwörungen häufen sich: Freimaurer, Epstein und Co. – alle sind beisammen. Ein Großteil dieser Theorien sind wohl haltlose Nebenprodukte des Kubrick-Mythos. Meine jedoch scheint sich selbstverständlich zu bewähren, denn ein weiteres Indiz offenbart sich. Es ist ein Fund, welcher meinen Triumph festigt. So wiederholt sich in der vorletzten Einstellung der letzten Szene nämlich nicht nur der Tiger, sondern auch drei weitere Figuren. Es sind zwei alte Männer und ein junger Kellner, die zuvor auf Zieglers (Sydney Pollack) Party zu sehen sind.

Nicht nur tauchen diese alten, bürgerlichen Männer von der Party wieder auf, einer Party, die dem elitären Hedonismus frönt, sondern sie gehen Helenas Verschwinden voraus. Man sieht, wie sie einen Teddy in ein Regal zurücklegen, was Helena dazu veranlasst, zu ihnen zu gehen. Alice und Bill berühren ein letztes Mal ihr Haar, während sie an ihnen vorbeigeht. Bill ist der Erste, der sie aus den Augen verliert. Ihre Tochter steht genau in der Mitte zwischen ihnen, während sie sich wieder ihrer Ehekrise widmen. Sie dreht sich ein letztes Mal, um ihre Eltern anzusehen, bevor sie den beiden Männern aus der Szene folgt. Sicherlich kann die Bedeutung des Tigers jetzt nicht mehr bestritten werden!

Mit dieser Information konfrontiert, ist mein Freund jedoch nur für einen Moment in seiner Überzeugung geschwächt: “Teri, [ich paraphrasiere] der Mythos des Genies ist eine Farce. Ein unfehlbarer Gott in der Kontrolle des Mikrokosmos Film existiert nicht. Deine Suche nach Bedeutung und Kreation ist kläglich christlich. Kubrick war talentiert, aber kein Feind des Zufalls. Immerhin hat er bei The Clockwork Orange die Wiederholung des Lieds „I’m singing in the rain“ am Set improvisiert. Kubrick war nicht gegen den Zufall immun. Wie erklärt man sich sonst den Anschlussfehler?“

Den Anschlussfehler? Tatsächlich hatte mein Freund den Fehler in dem Moment, als er geschah, ausgerufen. Nicht nur bezieht er sich auf seine Erfahrungen in der Außenrequisite, sondern auch auf seine Erfahrung als Skript-Continuity. Üblicherweise sind diese detaillierten Beobachtungen von ihm ein spaßiger Zusatz beim gemeinsamen Filmschauen. In diesem Stadium des Streits ist eine solche Enthüllung jedoch bitter. Ja, der Anschlussfehler geschieht im ersten Auftritt des Tigers bei Domino. Es gibt eine Halbnahe auf Domino, in der der Tiger mit dem Gesicht der Kamera zugewandt ist. Bill beendet sein Gespräch und setzt sich neben Domino und den Tiger, welcher nun – naja – verkerhtherum auf dem Bett sitzt. Mein Freund wettert: Würde der Tiger eine so wichtige Rolle spielen, wie ich sie ihm unterstelle, wäre diese Requisite ein sehr präsentes und bewusstes Element bei den Dreharbeiten gewesen. Meinem so hochgepriesenen Stanley Kubrick wäre ein solcher Anschlussfehler sicherlich nicht unterlaufen.

Der Gleichstand kratzt, denn es gibt noch weitere Möglichkeiten, meine Lesung zu verteidigen. Warum wurde die Endszene, die in Schnitzlers Traumnovelle bei den Harfords endet, in ein Einkaufszentrum verlegt? Warum, warum, warum? Das Mysterium von Eyes Wide Shut und Dominos Tiger lässt mir keine Ruhe. Schließlich glaube ich nicht, dass die Beantwortung der Tigerfrage mich wirklich befriedigen würde. Sollte Kubrick irgendwann aus seinem Grab auferstehen und mir eine präzise Antwort geben, würde die Befriedigung wohl bloß so tief gehen, wie Zieglers Aufklärung der Maskeradenveranstaltung. Ich behaupte, dass keine eindeutige Antwort den Hunger stillen kann. Kubrick selbst sagte: „Wenn man wirklich etwas mitteilen will, und sei es nur ein Gefühl oder eine Einstellung, geschweige denn eine Idee, dann ist der direkte Weg der am wenigsten effektive und am wenigsten angenehme. Es geht nur etwa einen Zentimeter hinein. Aber wenn man es schafft, die Leute an einen Punkt zu bringen, an dem sie einen Moment darüber nachdenken müssen, worauf man hinaus will, und es dann entdecken, dann geht der Nervenkitzel der Entdeckung direkt durchs Herz.“

Die Eindeutigkeit ist ein Trugschluss. Es ist die präzise Unklarheit, die Kubricks Arbeit so anziehend macht. Eine nahezu universelle Einigkeit findet sich in der öffentlichen Rezeption seiner Filme gerade wegen des Enigmas. Kubrick ist nicht daran interessiert, seine Realität als die eine Wahrheit zu präsentieren, sondern die Wahrheit im Kampf verschiedener Realitäten zu suchen. Er macht Filme über getriebene Menschen, die dieses Ideal der einen Wahrheit zu stürzen bestrebt sind. Es sind solche, die immer nach dem Horizont streben und stattdessen mit dem Tatsächlichen konfrontiert werden. Es scheint mir, als läge die Wahrheit des Tigers im Limbo. Letztendlich ist die Möglichkeit beider Realitäten die einzig reelle Erkenntnis, die man aus ihrem Kampf ziehen kann. Die Fantasie der idealen Filmplanung einerseits, die unkontrollierbare Natur des Filmsets andererseits. Die Fantasie der Sex-Eskapaden oder die natürliche, fehlerhafte Liebe einer Ehe. Unsere Wahrheit befindet sich womöglich im Zwischenraum dieser beiden Realitäten. Wir sind für immer gefangen zwischen dem geordneten Ideal und der chaotischen Natur. Für immer im gemeinsamen Freifall…

Joshua Bader sagt, wir haben mit Franco Toledo den chilenischen Steve Buscemi gefunden.

Wir gewinnen keinen Preis, aber Franco schenkt mir während der Verleihung einen McDonalds-Wertbon (70 Cent).

Louis versucht vergeblich, neun Shots zum Preis von sechs zu kaufen.

Unser Drehbuchautor, Anton Artibilov, geht barfuß zu Mittagessen mit unseren Gastgebern, weil er nur drei Paar Socken mitgebracht hat.

Die Leute fragen mehrfach im Q&A nach dem Namen der Eidechse. Einige verlassen unsere Premiere vorzeitig.

Ich rede mit einem Schauspieler, der die Gestik von Paulie Walnuts übernommen zu haben scheint.

Eine Schauspielerin schenkt mir ein Feuerzeug mit einem QR-Code zu ihrem About-Me-Video.

Louis und ich bemerken zu spät, dass die Mikrofone während unseres Interviews mit dem SR bereits mit der Redaktion verbunden sind, als wir noch alleine im Raum sind.

Während der Preisverleihung rufen Marlon und Franco immer, wenn Geld erwähnt wird: „Geld, Geld, Geld.“

Mein ehemaliger Chef, ein Produzent, scherzt auf dem Zwischenstopp im McDonalds auf der Rückreise mit dem Shuttle-Bus: „Kannst du etwas empfehlen?“

Bonus: Unser Gastgeber, Peter Sorg, hängt uns zwei Mal eine Wurst in einer Plastiktüte an die Türklinke.

Interview mit dem SR

„The French Flamingo Fucker“ in der Tagesschau

In den letzten Jahren war es mir ein Vergnügen, mehrere hundert Opfer in den Wohnzimmern meiner amerikanischen Fernsehzuschauer zu verteilen; ich hoffe, das dabei geflossene Blut hat die Teppiche nicht zu sehr ruiniert. Wir haben jedenfalls versucht, unsere Verbrechen möglichst sauber und unsere Morde möglichst fleckenlos abzuwickeln. [1]

[1] Hitchcock in Erlesene Verbrechen und makellose Morde (Henry Slesar, S.7)

Hinter den Kulissen der jährlichen Verleihung der goldenen Essiggurke. Ein Programm des Deutschen Filmförderfonds. Diesjähriger Host: İlker Çatak (ganz links am Bildrand, hinter den Repräsentanten für Filmdämmerung)

Eine salzige Empfehlung für die extra süßen Popcorn-Schlecker. Die diesjährige Essiggurke goes to… 

10. Wonka  (Paul King, Village Roadshow Pictures / Warner Bros. Pictures) 
In 30 Jahren wird man auf dieses Kinojahr zurückblicken und mit pinken Schaum vorm Mund schreien: BARBENHEIMER! Beziehungsweise: Die wenigen, die es noch ins Kino schaffen, werden sehen, dass 2023 ein Epochenwechsel war. Von Marvel zu Matel. Von Superhelden zu Spielzeugfiguren. Nach dem Tag, an dem Greta Gerwigs Barbie nämlich Christopher Nolans Oppenheimer am Boxoffice versank, würde nichts mehr so bleiben, wie es einmal war (*man höre die grusligen Schreie aus der Zukunft, wo Autor*innen in Hollywoods tiefsten Kellerlöcher gezwungen werden, die x-te Blockbuster Sequel über ein Plastikspielzeug auszuscheiden*). Wenn Barbie als überlanger Werbefilme wenigstens mehr als Product-Placement gewesen wäre, hätten die Indie-Film-Darlings und Power-Couple, Gerwig und Noah Baumbach sich auf die Schulter klopfen dürfen und wirklich behaupten können, dass das Autorenkino die Filme von den Superhelden befreit hätte. Leider ist Barbie aber ein hohles Lippenbekenntnis zu einer zufällig ausgewählten Best-of-Playlist des feministischen Diskurses. Nolans Gegenvorschlag für die neue Art des Blockbuster Kinos hatte auf den ersten Blick mehr Anspruch. Wenn man 70mm Film als Anspruch sieht. Oppenheimer las sich aber eher wie ein selbstgeschriebener Wikipedia-Eintrag, in dem der Autor per Namedropping von berühmten Freund*innen beweist, dass er den größten hat. Nach beiden Filmen fühlte man sich leer. Endlos leer. So leer, weil man wirklich nur eine Verpackung bekommen hat. Diese Enttäuschung bringt mich nun endlich zu Paul Kings Wonka. Natürlich gab es dutzende Filme, die mehr unter die Haut gingen als eine Prequel zu einem weiteren potenziellen Franchise-Monster (COMING SOON: alle, wirklich alle Roald-Dahl-Geschichten, auch wenn sie von ihm nur auf ein abgerissenes Klopapier gekritzelt wurden, auf dem steht: BITTE NIE VERÖFFENTLICHEN). Aber Wonka hat das geschafft, von dem Barbie und Oppenheimer nur träumen können: Ein Spektakel, von dem man sich so verzaubern lässt, dass man gerne glaubt, dass die Verpackung auch einen Inhalt hätte. Zugegebenermaßen ist es in diesem Fall ein hyperkapitalistischer Inhalt. Willy Wonka wird als ein Jung-Entrepreneur dargestellt, der sich sogar die Liebe seiner verstorbenen Mutter zurück erwirtschaften kann. Darüber hat man aber zum Glück gar keine Zeit nachzudenken. Denn atemberaubende Musicaleinlagen werden von stakkatoartigen Dialogwitzen gefolgt. So lädt der Film uns in eine Fantasiewelt ein, in der man sich wie ein Kind im Süßigkeitenladen fühlt. Egal ob man weiß oder nicht, dass der Großteil dieser Welt am Computer programmiert wurde, man würde trotzdem gerne jede Seitenstraße der fiktiven Stadt entlang schlendern. Allein schon in der Hoffnung, einen der vielen liebevoll gestalteten Charaktere anzutreffen. Denn selbst der kleinste Nebencharakter in diesem Film scheint drei-dimensionaler zu sein als Nolans Oppenheimer. Und dann kommen einem sogar die Tränen. Genau in dem Moment, wenn (der sicherlich nicht ideal besetzte) Timothée Chalamét das legendäre Lied „Imagination“ von dem originalen Willi Wonka aka Gene Wilder singt. Dieser Moment fasst alles zusammen. Denn man weiß, was der Film tut. Man sieht den doppelten Boden aus Original und Kopie, aus Nostalgie und Kommerz, aber man kann trotzdem nicht anders, als dem Spektakel zu erliegen. Und darum ist Wonka der Blockbuster des Jahres. Der Blockbuster, der Hoffnung auf ein Kino ohne toten Spielzeugpuppen macht. Denn er gibt uns genau, was wir an der Kinokasse wollten — eine Illusion, die sich für einen Moment als echt entpuppt. O Kapitalismus! Mein Kapitalismus! Wie kannst du nur so süß sein?

9. Perfect Days (Wim Wenders, Masters Mind Limited)
Aber genug Polemik. Der neuste Film von Wim Wenders ist das genaue Gegenteil zu der kunterbunten Bonbonwelt von Wonker. In ruhigen Bildern verfolgt er das Leben eines Kloputzers in Tokio. Der strikte Tagesrhythmus des Mannes zieht uns langsam, aber unaufhaltsam in den Bann. Ähnlich einer Murakami Geschichte, entwickelt die innere Ruhe des Protagonisten eine eigene Kraft, die uns einlullt und gleichzeitig Mut spendet. Gespickt mit Momenten der Schönheit, wie das Rascheln der Blätter im Wind oder die magischen Träume bei Nacht, wird der Blick des Protagonisten zu einem eigenen kleinem Universum. Es passiert nicht viel in dem Film, das aus dieser Routine ausbricht. Aber trotzdem zeigt das unglaubliche Spiel von Kōji Yakusho, der dafür den Preis als bester Schauspieler in Cannes gewann, wie schön und gleichzeitig schwermütig die einfachen Dinge des Lebens sein können. Perfect Days ist eine transzendente Meditation über das Alltägliche und öffnet uns einen Raum, der dahinter blickt. Wenn die wenigen Dialoge, die es gibt, nicht so ungelenk und altbacken daher kommen würden, wäre dieser Film vielleicht sogar auf Augenhöhe mit den alten Meisterwerken von Wim Wenders.

8. Das Lehrerzimmer (İlker Çatak, If… Productions)
Der einzige Film aus Deutschland auf dieser Liste bedient auch ein typisch deutsches Thema. Eine Schule bildet den gesellschaftlichen Mikrokosmos, in dem die Frage nach richtig oder falsch gestellt wird. Der Auslöser für diese tiefere systemische Auseinandersetzung ist ein Diebstahl im betitelten Lehrerzimmer. Zum Glück schlägt die Inszenierung aber nie eine didaktische Richtung ein, sondern entscheidet sich die kleine Bagatelle wie einen Politthriller zu verfolgen. Kamera und Schnitt-Rhythmus schaffen es wirklich, Spannung und Klaustrophobie in die tristen Gänge einer Schule zu bringen. Die Spannung treibt den Film genauso an wie die unglaubliche Verletzlichkeit in Carla Nowaks Schauspiel. Sie verkörpert eine Frau, deren hohe Erwartungen an die Gesellschaft einen solchen Druck auf sie selbst zurückwerfen, dass sie jeden Moment darunter zu zerbrechen droht. Doch sie kämpft weiter. Ihre politisch korrekte Ausdrucksweise versprachlicht den Kampf gegen die Windmühlen eines veralteten Systems auf großartige Weise. Die Dialoge lassen Beamtendeutsch und politische Korrektheit aufeinanderprallen und schaffen es trotzdem, die Kommunikationsproblematik emotional einzufangen. Çatak gelingt mit diesem bärenstarken Drehbuch ein kompakter und zeitgemäßer Blick. Dafür vergibt man ihm sogar die wenigen Momente, in denen die Analogie von Schule auf Gesellschaft mit der Brechstange erzwungen scheint. 

7. Tár (Todd Field, Standard Film Company / Universal Pictures)
Cate Blanchett brilliert in dieser Tour de Force. Ähnlich wie Das Lehrerzimmer wird hier der Arbeitsplatz zum Sinnbild gesellschaftlicher Veränderung. In diesem Fall geht es um den Machtmissbrauch, den Cate Blanchetts Figur Lydia Tár als berühmte Dirigentin an der Berliner Philharmonie ausübt und schlussendlich zu Fall bringt. Auch hier entwickelt sich das psychologische Drama zu einem Politthriller, in dem man sich fragt, wie schuldig die Dirigentin wirklich ist. Die kühle, distanzierte Inszenierung schafft es, ein System hinter den sexuellen Gefälligkeiten zu erkennen, das größer ist als Tár selbst. Die Haltung des Films gegenüber Bewegungen wie MeToo bleibt jedoch fragwürdig. Vielleicht verschleiert die künstlerisch wie effiziente Filmsprache gar einen zu zynischen Blick auf die Welt. Andererseits übt genau diese Ambivalenz eine spezielle Anziehungskraft aus, wegen der man bei diesem Film noch genauer auf alle Grauzonen des menschlichen Miteinanders blickt.

6. Maestro (Bradley Cooper, Netflix) 
Zufälligerweise ist der titelgebende Maestro dieses Films, Leonard Bernstein, auch das Vorbild für die fiktive Figur von Lydia Tár. Und dieser zweite Film über einen klassischen Musikdirigenten ist Tár in einigen Belangen klar überlegen. Bradley Coopers Biopic über das Musikgenie Bernstein sieht den Hangover-Star alle Zügel in die Hand nehmen — Drehbuchautor, Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller in einem. So viel Hybris lässt eigentlich nur einen Totalschaden erwarten. Doch Cooper schafft es überraschenderweise, die transzendentale Musik von Bernstein durch eine hochemotionale Geschichte filmisch zu übersetzen. Anders als Tár setzt dieser Film nämlich nicht auf Anekdoten und Nerdisms aus der Musikgeschichte, sondern konzentriert sich voll und ganz auf einen emotionalen roten Faden: die Beziehung zwischen Bernstein und seiner Frau Felicia Montealegre. Die verschiedenen Stadien dieser zeitlosen Liebesgeschichte werden unglaublich dynamisch von Coopers abwechslungsreicher Inszenierung eingefangen. Musicalnummern geben sich die Hand mit atemlosen Dialogen in starren Einstellungen. Schwarz und Weiß Sequenzen verweben sich gekonnt mit der farbenfrohen Rahmenhandlung. Jede Entscheidung von Cooper ist beflügelt von kreativem Mut und geht voll auf. Die Größe des Ensembles und des trittsicheren Worldbuildings erinnert an Steven Spielberg. Doch wirklich glänzen tut Cooper, wenn er an John Cassavetes erinnert. Sein Fokus auf echtes, intimes und wildes Schauspiel, das sich wirklich im Moment und nirgendwo anders befindet, entwickelt einen irrsinnigen Sog. Carey Mulligans laut-leise-alles-in-sich-vereinende Performance als Felicia Montealegre übertrifft dadurch sogar Cate Blanchettes metronomartige Präzision. 

5. Le Cinq Diables (Léa Mysius, Trois Brigands Productions / Mubi)
Mit Ava hatte Léa Mysius bereits gezeigt, wie feinfühlig sie bittersüße Coming-of-age Geschichten erzählen kann. Doch mit ihrem Zweitwerk The Five Devils wirft sie noch viel mehr Genrekunst in den Topf. Liebesdrama, Horror und allen voran einen wunderschönen magischen Realismus. Ohne groß zu erklären, zeigt sie ein kleines Mädchen, das eine einzigartige Fähigkeit besitzt: Mittels ihres Geruchssinnes kann sie in die Erinnerung von anderen tauchen. Dieser magische Twist ermöglicht ihr das, was andere Kinder in dem Alter zwar oft spüren, aber selten durchbrechen können. All die Geheimnisse, Lügen und Traumata, die ihre Familie bewegt, liegen ihr nun offen. The Five Devils schafft so eine magische Welt, die aber tief mit den Sehnsüchten des wahren Lebens korrespondieren. Es zeigt einen neuen magischen Realismus, der vor allem in Frankreich, aber hoffentlich auch in Deutschland immer mehr Anklang findet. Ein magischer Realismus, der nicht bei künstlerischer Effekthascherei oder unzugänglichen Metaphern stehen bleibt, sondern viel tiefer unter die Haut gehen kann als inszenierte Realitäten. 

4. Asteroid City (Wes Anderson, Indian Paintbrush / Focus Features) 
Wes Anderson treibt seine Handschrift und damit seine eigens entwickelte Form mit diesem Film auf die Spitze. Man kann ihm vorwerfen, obsessiv zu sein oder nichts Neues zu wagen. Doch wie einer der alten Meister schafft es Anderson in seinen penibel akkuraten Pinselstrichen immer wieder neue Wahrheiten zu entdecken. Wie so oft beginnt er mit dem Auffächern von mehreren Erzählebenen. Der Film öffnet als Radiodokumentation über das letzte Theaterstück eines verstorbenen Dramatikers — „Asteroid City“. Die zweite Ebene ist die Produktion des Stücks selbst und die dritte ist die eigentliche Geschichte dieses Stücks. Die Erzählebenen sind also so selbstreferenziell, dass der Film sich als Asteroid City über Asteroid City in Asteroid City zusammenfassen lässt. Diese theoretischen Verwirrungen sind aber nicht, was uns bewegt. Jede Figur, egal auf welcher Ebene, weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat; weiß nicht, was die Schicksalsschläge einer unverständlichen Welt beuteten sollen; weiß nicht, was das Stück darüber zu bedeuten hat; und weiß nicht, warum dieses Stück trotzdem Sinn ergibt. So ist der Konflikt einer jeden Figur die Existenz selbst, die Schwere des eigenen Bewusstseins. Und mitten in der Aufführung der Geschichte bricht eine Figur ab, um als Schauspieler dieser Figur zu fragen, was das alles zu bedeuten hat. Es sind genau diese Momente, die Andersons dogmatischer Filmsprache neue Tiefe und Leichtigkeit zugleich verleihen. Denn in diesen Momenten tritt eine Wahrheit anstelle der streng gekünstelten Inszenierung. Eine Wahrheit, die nicht dokumentarisch oder wissenschaftlich einzufangen wäre, sondern nur in dem Bruch des Gespielten, des Falschen aufblitzen kann. Anderson gelingt es wie in seinen jüngsten Filmen das Handwerk in den Vordergrund zu schieben und trotzdem offenbart er intimste Emotionen wie in seinen ersten Filmen. Scarlett Johansson und Tom Hanks sind außerdem noch zwei unerwartet passende Additions zu seinem immer größenwerdenden Ensemble. 

3. Passages (Ira Sachs, SBS Productions / Mubi)
In diesem Film brodelt jede Einstellung. Ira Sachs zerlegt ein Liebesdreieck in seine Einzelteile aus Verlangen, Schmerz und Eifersucht. Franz Rogwoski, Ben Wishaw, und die einzigartige Adèle Exarchopoulos, die auch schon in The Five Devils brillierte, verkörpern ihre Figuren im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur durch die wahrhaftigsten Sexszenen des Jahres, sondern auch durch die Präsenz, die sie ihren Figuren in ganz stillen Moment verleihen, fühlt man ihr zerrüttetes Innenleben an eigener Haut. Cast und Kamera gehen in Passages eine Symbiose ein, die selbst die tiefsten Abgründe der Liebe zu einem sexy Spektakel machen. Ira Sachs schafft damit ein ergreifend intensives psychosexuelles Drama. 

2. Sick of Myself (Kristoffer Borgli, Oslo Pictures)
Aber das reinste Körperkino dieses Jahres findet man in dieser rabenschwarzen Komödie. Man windet sich vor Fremdscham, das Lachen friert sich zu einer Fratze fest und die Haare stellen sich vor Ekel auf. Die Zutaten sind simple wie genial: Borgli wirft ein Paar in den Ring, das sich in dem Teufelskreis der eigenen Selbstverliebtheit andauernd übertrumpfen will. Zwei perfide Narzissten, deren einzige Gemeinsamkeit ist, unbedingt auffallen zu wollen, beuten sich selbst aus, bis der Arzt kommt.  Dieser Film ist wie ein Autounfall, von dem man nicht weggesehen kann. Mit dem einzigen Unterschied, dass die beiden Fahrer währenddessen noch Selfies machen. Sick of Myself ist das Zerrbild einer neuen Welt, in der jeder nur auf sein eigenes Spiegelbild blickt. Es ist eine absurde Milieustudie, die zu krassem Zynismus neigt, aber nie unzugänglich wird — hier trifft Ruben Östlund auf Brett Easton Ellis, und trotzdem merkt man, dass Borgli eine ganz eigene Handschrift hat. An anderer Stelle hat dieses Jahr Marlon Bienert für uns den Film schon in einem Wortbild zusammengefasst: https://filmdaemmerung.studio/2023/05/18/film-kritik/. Deswegen will man gar nicht mehr verraten, außer dass Borglis nächster Film Dream Scenario das Kinohighlight des nächsten Jahres zu werden verspricht. 

1. Past Lives (Celine Song, A24) 
In Hermann Hesses Siddhartha blickt der Protagonist am Ende auf einen Fluss und erkennt, dass alles ständig im Wandel ist und der Fluss doch bestehen bleibt. Celine Songs Film beobachtet ebenso meditativ wie sich drei Lebensstränge verweben und entwickelt dadurch einen ganz eigenen Fluss. Es beginnt mit zwei Kindern in Seoul, deren Beziehung noch zu unschuldig ist, um sie als Paar zu sehen. Der Film schafft es aber, diese kindliche Freundschaft so zu inszenieren, dass man sie trotzdem als heranwachsende Liebe erlebt. Als das Mädchen Na Young aber wegen ihrer Eltern nach Kanada emigriert, trennt sich das so starke Band zwischen ihr und Hae Sung zum ersten Mal. Der Film springt mehrfach in der Zeit und wir sehen, wie sich beide Kinder zu Erwachsenen entwickeln, Erfahrungen machen, einem eigenen Leben ausgesetzt sind. Doch ihre Verbindung holt sie immer wieder ein. Bis sie sich nach über 20 Jahren wieder in New York sehen. Ihr Aufeinandertreffen ist wie eine Zeitreise, die alles infrage stellt, was sie bis dahin erlebt haben. Diesen Film zusammenzufassen, läuft immer Gefahr, ihn des Kitsches zu beschuldigen. Denn keine Synopsis kann die vielen kleinen Wahrheiten und differenzierten Momente dieser Reise gerecht werden. Wenn man sich aber eine Szene genauer anschaut, erkennt man, welche Kraft dieser Film in sich trägt: Bevor Hae Sung nach New York kommt, hat Na Young ein Gespräch mit ihrem neuen Lebenspartner, Arthur. Sie teilen in aller Offenheit ihre Ängste und Wünsche nun, da eine alte Liebe in ihr Leben tritt. Ein kitschiges Liebesdrama hätte es sich leicht gemacht und Arthur als nervigen, neurotischen Partner dargestellt, der Na Young im Weg zu ihrer wahren Liebe steht. Doch nicht Past Lives. Arthurs Figur bekommt hier in einem feinfühligen Monolog den Raum zugesprochen, um seine Gefühlswelt als ebenso lebendig darzustellen wie die Hauptfigur des Filmes. Die Ehrlichkeit der reduzierten Inszenierung erinnert an den Monolog des Vaters in Call me by your Name, aber birgt eine noch größere Kraft. Denn es ist kein Monolog, der nur an sich selbst und eine andere Person gerichtet ist. In diesem Moment redet der Film von allen Menschen, die sich einmal mit jemandem verbunden gefühlt haben. Genauso wie wir die Summe unserer Entscheidungen sind, sind wir auch die Summe der Menschen, die uns berühren durften. Die tragische Schönheit vergangener Liebe wird genauso als Möglichkeit für den unerschöpflichen Drang des Lebens gesehen, wie die Eventualität neuer Liebe. Past Lives schafft es somit, eine spirituelle Welt auf die Leinwand zu bannen, während es doch nur das alltägliche Leben seiner Charaktere beobachtet. Es stellt Fragen zu unserer Herkunft, Gegenwart und Zukunft und gibt uns Hoffnung, dass die Verbindungen, die wir fühlen oder fühlten, nicht einfach verschwinden. Celine Song ist so ein stilles Meisterwerk gelungen, das die Melancholie von hundert ungelebten Leben in sich trägt und doch das eine Leben als sich immer wandelnden Fluss begreift. 

Interviewer: Heißt das, dass du deinem eigentlichen Stil in der Inszenierung von A Swedish Love Story nicht gerecht geworden bist? Oder bist du ihm einfach überdrüssig geworden?

Andersson: Für mich ist es absolut unmöglich, einen Film in diesem realistischen europäischen Stil zu drehen, als Liebesgeschichte. Unmöglich.

Interviewer: Wir können also davon ausgehen, dass dein nächster Film [About Endlessness] keine Liebesgeschichte wird.

Andersson: Nein. Und ich frage mich, ob ich die Kamera jemals wieder bewegen kann. Ich würde es ja gerne tun, aber ich habe es schon versucht. Es wird nur noch schlimmer.

Interviewer: Was meinst du, es wird schlimmer?

Andersson: Die Kamera zu bewegen.

Interviewer: Du hast Tests oder Experimente durchgeführt? Ganze Szenen gedreht?

Andersson: Weil die Leute sagen: „Ah, du wiederholst dich ständig, mit deiner feststehenden Kamera.“ Ja, ja, ja, ich werde es versuchen. Und ich habe es versucht. Aber du verlierst etwas, wenn du die Kamera bewegst. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, was.

Interviewer: Ich denke, es ist einfacher, die Kamera entweder ständig oder gar nicht zu bewegen. Es ist das Dazwischen, das knifflig ist.

Andersson: Nun, Iñárritu – der Regisseur von Birdman – hat seine Kamera die ganze Zeit in Bewegung. Und das ist wirklich hervorragend gemacht. Ich bin mir also nicht sicher, ob ich die unbewegliche Kamera für immer beibehalten werde, ich bin mir nicht sicher. Was ich aber auf keinen Fall tun werde, was ich unter gar keinen Umständen will, ist, in das Gesicht zu schneiden, den sogenannten Insert. Nein, nein, niemals. Das ist unmöglich.

Full Interview

Interviewer: Du scheinst sehr unsentimental, beinah kühl. Und ich habe gehört, dass einer, der deinen Film „Ariel“ (1988) sah, sagte: „Er ist ein Zyniker.“ Wie lautet deine Antwort an diesen Mann?

Kaurismäki: Ich würde ihn fragen, ob er jemals so sentimental war, ein Streichholz zu begraben. Als Kind tat ich das. Ich hatte so viel Mitleid mit dem Streichholz, das auf dem Asphalt lag. Also nahm ich es und begrub es an einem schönen Fleck im Wald. Ich würde einen solchen Mann nicht einen Zyniker nennen.

Interviewer: Also bist du sentimental?

Kaurismäki: Der sentimentalste, den es je gab.

Interviewer: Du zeigst es nicht.

Kaurismäki: Frag meinen Hund.

„Das war 1913 in Berlin. […] In jenen Tagen wurden die Rollenbesetzungen in den Cafés in der Gegend um die Friedrichstraße herum abgesprochen. Um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, regte Lubitsch an, unsere Arbeit in den Cafés zu erledigen. Dort entwarfen wir an einem Tag die Story und am anderen Tag schrieben wir sie nieder. Im Durchschnitt schafften wir zwei vollständige Kurzfilme pro Monat. Doch bald hatten die Schauspieler spitzbekommen, was wir da trieben, und sie machten es sich zur Gewohnheit, an unseren Tisch vorbeizuschauen, um nach Rollen zu fragen. Lubitsch, der eine ungewöhnliche Konzentrationsgabe besaß, fühlte sich durch diese Unterbrechungen gestört. Er scheute von Natur aus davor zurück, andere zu verletzen. So löste er das Problem, indem er von einem obskuren Café ins andere flüchtete, den Schauspielern immer um eine Nasenlänge voraus.“*

* Ernst Lubitsch Monografie vom Rowohlt Verlag, 1992, S. 24-25

„Die Zeitschrift fiel uns in die Hände, wie eine Erbschaft. Wir haben geglaubt, es sei Raum für noch viel mehr. In den zehn Jahren, die ich bei der Filmkritik war, haben vielleicht 1000 Autoren in der Bundesrepublik ihren ersten Film gemacht, aber ich kann mich nur an einen* erinnern, der seine Film-Praxis mit einer Text-Praxis verbinden wollte. Wir haben die Zeitschrift 1984 einstellen müssen, wir fanden auch niemanden, der sie fortführen wollte, das weist auf unser größtes Unvermögen hin.“**

* = Wim Wenders?

** Das Zitat ist einer Reflexion aus dem Jahr 2003 über 10 Jahre redaktionelle Arbeit für die Filmkritik entnommen.