Was ist das Ziel von Filmkritik?

Filmkritik ist im besten Fall eine Fortführung des Filmerlebnisses. Es ist einer von vielen weiteren Glassplittern, die die verschiedenen Lesarten des Gesehen widerspiegeln. Nur so kann ein Film sich selbst überleben, denn solange ein Werk die Kraft besitzt, verschiedenen Interpretationen Leben einzuhauchen, vermag er es auch selbst weiter zu atmen. 

What is the aim of film criticism?

At its best, film criticism is a continuation of the film experience. It is one of many more shards of glass that reflect the different readings of what is seen. Only in this way can a film survive itself. Inasmuch that a film can only breath life, as long as it has the power to inspire. 

Was darf Filmkritik nicht sein?

Das Ziel darf nicht sein das Werk ein für alle Mal zu erklären oder noch schlimmer: darzustellen. Erstens vermag das keine Filmkritik, zweitens würde das den Tod bedeuten. Denn Filme, die sich in Worte fassen lassen, sind nicht der Rede wert. So muss die Sprache Sprache bleiben. Sie kann bloß eine Tür öffnen, welche der Film ihr gezeigt hat. Wenn die Rezipient*in einer Filmkritik sich entschließt, durch diese Tür hindurch zu gehen, wird auf der anderen Seite sicherlich nicht der gleiche Film auf sie warten. Doch man wird sich ihm näher fühlen, als wenn man versucht ihn ohne Kamera wiederzugeben. 

What must film criticism not be?

The goal must not be to explain the work once and for all, or even worse: to portray it. Firstly, no film criticism can do such, and secondly, that would mean death. For films that can be put into words are not worth talking about. So words must remain words. And these words should only serve to open a door that the film has been able to conjure. If the recipients of a film critique decide to step through this door, it will certainly not be the same film waiting for them on the other side. Still, they will feel closer to the idea of the original work, than by means of simply trying to reproduce the film without a camera. 

Was ermöglicht Filmkritik?

Dementsprechend ermöglicht Filmkritik das Überleben oder Nachleben eines Werkes und ermächtig gleichzeitig die Rezipient*in des Werkes eine aktive Rolle in dessen Nachleben einzunehmen. Genau wie der Film selbst, muss die Filmkritik also eine kritische Reflexion über das Leben ermöglichen. Nur so kann die Rezipient*in die Fragen vertiefen, welche der Film aufgeworfen hat und sich ein Leben vorstellen, das sie mit neuen Antworten entscheidend mitgestalten kann. Denn was ist Film, wenn nicht eine Auseinandersetzung mit dem Leben?

What does film criticism enable?

Consequently, film criticism enables the survival or afterlife of a work and at the same time empowers the recipients of the work to take an active role in its afterlife. Thus, like film itself, film criticism must enable a critical reflection on life. Only in this way can the recipients deepen the questions raised by the film and imagine a life that they can shape with new answers of their own. For what is film, if not an examination of life?

Von Louis Gering

Lieber Rainer Werner Fassbinder,

ich schreibe dir in der Form eines Briefes, was vielleicht impliziert, dass ich dir etwas mitteilen möchte. Um ehrlich zu sein, ist dieser Brief jedoch zunächst einseitiger konzipiert: Ich will mich mit mir selbst ins Verständnis setzen, über dich und deine Art, Filme zu machen. Gleichzeitig glaube ich, dass dieses Vorgehen letztlich mehr Allgemeingültiges hervorbringen könnte, als wenn ich mich tatsächlich persönlich an dich richtete und beispielsweise von deiner coolen schwarzen Lederjacke schwärmte, die du so oft trugst. Denn – so hoffe ich zumindest – dieser Versuch, dich besser zu verstehen, könnte auch andere zu einem besseren Verständnis deines wichtigen und kontroversen Oeuvres führen. Dein Beitrag zum kollektiv produzierten Film Deutschland im Herbst (1977/78) scheint mir dazu besonders geeignet, deshalb werde ich einige der in deiner Episode enthaltenen Aspekte herausgreifen und erläutern, warum ich sie als paradigmatisch für dein filmisches Schaffen erachte. Mich interessiert also gewissermaßen die Idee des Filmemachers Rainer Werner Fassbinder. Walter Benjamin versteht die Idee als eine Monade im Sinne des Philosophen Leibniz, „das heißt in Kürze: jede Idee enthält das Bild der Welt. Ihrer Darstellung ist zur Aufgabe nichts Geringeres gesetzt, als dieses Bild der Welt in seiner Verkürzung zu zeichnen.“ [1] Eine Idee konfiguriert nach Benjamin ihre Totalität durch ein sinnvolles Nebeneinander der in ihr enthaltenen Extreme. [2] Dass die Fassbinder-Episode aus Deutschland im Herbst durchaus einige Extreme versammelt, aus denen sich – so meine These – die Idee des Filmemachers Fassbinder speist, sollte im Folgenden ersichtlich werden. Ich mache mich also auf die Suche nach dem Bild der künstlerischen Welt und des filmischen Kosmos des Rainer Werner Fassbinder und werde in gebotener Kürze versuchen, dieses zu zeichnen.

Bevor ich speziell auf deine Arbeitsweise eingehe, möchte ich zum besseren Verständnis ein paar allgemeine Worte über den Film Deutschland im Herbst verlieren. An dem Kollektivprojekt beteiligten sich zahlreiche Filmemacher*innen und Künstler*innen, unter anderem Edgar Reitz, Alexander Kluge, Heinrich Böll oder Beate Mainka-Jellinghaus. Der Film entstand als künstlerischer Reflex auf den RAF-Terror, vor allem die Entführung und Ermordung des damaligen Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Hanns Martin Schleyer, die Entführung des Flugzeugs Landshut in Mogadishu und den Selbstmord der führenden RAF-Mitglieder*innen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim. Diese Ereignisse sorgten in Deutschland für ein angespanntes gesellschaftliches Klima nicht nur innerhalb der Linken; die sogenannte Sympathisantenhetze ließ viele kritische Stimmen aus Angst vor Inhaftierung oder Verfolgung verstummen. Unter anderem um diese Entwicklungen zu kommentieren fanden sich insgesamt elf Regisseur*innen des Neuen Deutschen Films zusammen und schufen eine filmische Intervention, über deren Fassbinder-Episode ich im Folgenden spreche.

Da sich der Film Deutschland im Herbst als Antwort auf den Terror des „heißen Herbsts“ und die daraus resultierende gesellschaftliche Situation versteht, hattet ihr Filmemacher*innen keine Zeit zu verlieren, wolltet ihr nicht riskieren, dass euer Kommentar durch lange Produktionszeiten und das Warten auf den Kinostart bereits an Aktualität und Schlagkraft verlöre. Dies kam dir entgegen, denn deine schnelle Arbeitsweise avancierte früh zu einem deiner Markenzeichen. (Deine Episode war dann auch die erste, die fertig abgedreht und geschnitten vorlag.) Doch nicht nur durch die bei Deutschland im Herbst gebotene Eile wird deine unkonventielle, schnelle, beinahe hektische Arbeitsweise sichtbar. Auch auf der Inhaltsebene deiner Episode thematisierst du diese Methode: Eben aus Paris zurückgekehrt, um die Postproduktion mit abgedrehtem Material zu beginnen, sieht man dich während der Episode immer wieder an deinem Diktiergerät sitzen und am Storyboard für deine Adaption von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz arbeiten. Während der Dreharbeiten oder der Postproduktion bereits am nächsten Drehbuch schrauben – nur auf diese Weise kann es gelingen, in lediglich 13 Jahren mehr als 40 Filme (und darüber hinaus noch zahlreiche Theaterprojekte) zu realisieren…

Ein weiteres Markenzeichen deines Filmemachens, das ebenfalls bereits seit dem Frühwerk als typisch für dich zu gelten hat, war die Beteiligung enger Vertrauter am künstlerischen Prozess. Deine ersten Filme Liebe ist kälter als der Tod, Katzelmacher oder Der amerikanische Soldat weisen beinahe alle einen identischen Cast und eine identische Crew auf – die sogenannte Fassbinder-Clique. Berühmt gewordene Fassbinder-Stars wie Irm Hermann oder Hannah Schygulla kanntest du bereits von deiner Zeit im Münchener Undergroundtheater der 1960er-Jahre. Auch in Deutschland im Herbst sind die Schauspielenden neben dir selbst vor allem dir nahestehende Personen: Zum einen ist da Armin Meyer, dein Geliebter, der sich 1978 nach der Trennung von dir das Leben nahm. Zum anderen findet sich dort Liselotte Eder, deine Mutter. Sie spielt in mehreren deiner Filme kleine Rollen, das Besondere an Deutschland im Herbst ist jedoch, dass keine*r der Schauspielenden fiktionale Rollen, sondern stattdessen sich selbst spielt. Diese Art der Darstellung, in der außerfilmische Realität und filmische Inszenierung überlappen, ließe sich vielleicht als Grundprinzip der äußerst provokanten und medienwirksamen Persona fassen, die du dir im Laufe deiner Karriere schufst. Das Hervorgehen der Fassbinder-Clique aus dem kommunenartig geführten Münchner Action- und antiteater sowie die kollektive Dimension des Deutschland im Herbst-Projekts verweisen außerdem darauf, dass du als Regisseur an alternativen, vom antiautoritären Zeitgeist der 68er-Generation gekennzeichneten Produktionsweisen interessiert warst. Dass die Aussagen vieler deiner Kollaborateur*innen deinen Regiestil und dein Auftreten als cholerisch und einzelgängerisch ausweisen, benennt lediglich einen der zahllosen Widersprüche im Schaffen des vielleicht wichtigsten künstlerischen Außenseiters der Nachkriegs-BRD.

Dein gesamtes Werk durchzieht eine Auseinandersetzung mit der damaligen bundesdeutschen (die DDR bildet kurioserweise einen blinden Fleck in deinem Oeuvre) Gegenwart und Geschichte – viele deiner eher historischen Filme lassen sich als Geschichte der Gegenwart verstehen. Den Dreh- und Angelpunkt bildet dabei stets die nicht aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit und die so entstandenen Kontinuitäten zwischen Drittem Reich und BRD. Immer wieder kritisierst du die Werte und Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft; in Deutschland im Herbst erklärst du, der Regisseur selbst, einem Journalisten, dass du problematisieren willst. Dir sei es sehr recht, dass wegen deiner Filme Ehen in die Brüche gehen, weil Leute anfangen, das Gegebene als künstliches Konstrukt zu hinterfragen. Um deine Kritik an der deutschen Wohlstandsgesellschaft zu üben, drehtest du hauptsächlich in Innenräumen. Was eignet sich besser, um das immer noch vorherrschende nationalsozialistische Gedankengut zu kritisieren, als die häusliche Sphäre, in die sich die „Altnazis“ und „Mitläufer“ nach der offiziellen „Entnazifizierung“ der Öffentlichkeit zurückgezogen haben? Gilles Deleuze und Félix Guattari liefern in ihrem Buch Tausend Plateaus eine Analyse des Faschismus, die eine gewisse Affinität zu deiner filmischen Kritik der BRD aufweist:

Der Faschismus aber ist untrennbar mit molekularen Unruheherden verbunden, die sich rasch vermehren und von einem Punkt zum nächsten springen, die sich in Interaktionen befinden, bevor sie alle gemeinsam im nationalsozialistischen Staat widerhallen. Ländlicher Faschismus und Faschismus der Stadt oder des Stadtteils, junger Faschismus oder Faschismus des alten Kämpfers, linker und rechter Faschismus, Faschismus in der Ehe, in der Familie, in der Schule oder im Büro […]. [3]

Die Wohnstuben der Wirtschaftswunderzeit als „molekulare Unruheherde“ des domestizierten Faschismus zu entlarven – so ließe sich dein kritisches Projekt ebenfalls fassen.

In Deutschland im Herbst stellst du diese Entlarvung des domestizierten Faschismus anhand eines Interviews, das du selbst mit deiner Mutter führst (bezeichnenderweise in einer Küche oder einem Wohnzimmer), dem Publikum rigoros vor Augen: Diese fordert dort abschließend, dass in einer solchen Ausnahmesituation, wie sie im Herbst 1977 in Deutschland gegeben war, ein autoritärer Herrscher, „der so ganz gut ist“, der Demokratie vorzuziehen wäre. Zuvor hatte deine Mutter immer wieder betont, dass sie niemandem empfehlen würde, in der aktuellen Debatte die Diskussion zu suchen, da die große Mehrheit der Deutschen Demokratie noch nicht internalisiert hätte. An einer Stelle fordert sie sogar die öffentliche Hinrichtung der RAF-Terrorist*innen. Auch Armin fordert schon zu Beginn der Episode, dass die Landshut doch einfach gesprengt und alle inhaftierten RAF-Terrorist*innen erschossen werden sollten. Hier sei allerdings noch einmal an die besondere Inszenierung dieser Episode erinnert: das Verwischen der Grenze zwischen filmischer und außerfilmischer Wirklichkeit. Zwischen das Interview mit deiner Mutter fügst du Szenen, in denen man dich am Telefon und mit Armin über die Flugzeugentführung der Landshut und die angespannte Situation des heißen Herbst sprechen sieht und hört. Du stehst dabei enorm unter Strom, neigst zu Gewaltausbrüchen gegenüber Armin, rauchst, trinkst (Asbach-Cola!) und kokst exzessiv. Als Armin einen jungen Mann ohne Schlafplatz aus einer Bar mit nach Hause bringt, wirst du paranoid und schmeißt den Jungen raus. Zuvor hattest du überstürzt das gerade bestellte Kokain im Klo runtergespült, weil du dachtest, die Polizei sei dir auf den Fersen. Durch deine inszenierte Paranoia gelingt es dir, das gesellschaftliche Klima der Verunsicherung in der privaten Sphäre – und damit auch deren politische Dimension – sichtbar zu machen.

Diese Art der Politisierung des Privaten, die für die 68er-Bewegung zum Schlachtruf wurde, funktioniert bei dir auf eine Art und Weise, die durch ein filmisch-interventionistisches Eingreifen Räume für Verhandlung, Dissens und Konflikte öffnet, um ein neues, anderes Nachdenken zu ermöglichen. Das Gelingen deines Vorhabens hängt meiner Ansicht nach zu einem großen Teil davon ab, wie du gesellschaftliche und staatliche Vorgänge oder Strukturen wie Denunziation und Terrorismus verkörperlichst, inkorporierst oder verleiblichst. Denn, und dies formt den letzten Aspekt, den ich ansprechen möchte: Letztlich sind es immer Körper, auf die die (staatliche) Macht einwirkt. Und Körper sind es auch, die in deinen Filmen leiden. In Deutschland im Herbst wird die Körperlichkeit der beiden schwulen Liebhaber immer wieder in Szene gesetzt: Man sieht dich und Meier gemeinsam nackt im Bett, dicham Telefon mit deinem Penis in der Hand, übers Klo gekrümmt beim Kotzen oder nach einem Nervenzusammenbruch heulend in den Armen Meiers. Häusliche Gewalt – vor allem gegen Frauen – findet sich in vielen (beinahe allen) deiner Filme, am prominentesten vielleicht in Martha. Deutschland im Herbst zeigt deutlich, dass du hier nicht zwischen homosexuellen oder heterosexuellen Paarbeziehungen unterscheidest (Die bitteren Tränen der Petra von Kant kann als lesbisches Analogon zu schwulen Beziehungen in Deutschland im Herbst  oder Faustrecht der Freiheit gelesen werden). Ich interpretiere diese intensive, oft gewaltvolle Körperlichkeit als eine Rückübersetzung der in deiner strukturellen Gesellschaftsanalyse zutage geförderten Gewalt von der Makro- oder molaren Ebene der Gesellschaft oder des Staates auf die Mikro- oder molekulare Ebene der Paarbeziehung. Die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft der Nachkriegszeit, deren Frauenbild dem der Nationalsozialisten weitestgehend glich, prangerst du an, indem du zeigst, wie Männer zu Hause über „ihre“ Frauen befehligen, sie unterwerfen und verprügeln. (Wie gesagt – dieselben Mechanismen machst du auch in homosexuellen Partnerschaften aus.) Solche Szenen sind oft beinahe unerträglich anzusehen und genau deshalb effektiv: Sie machen das Publikum im besten Fall betroffen und wütend, versetzen es in eine Rezeptionshaltung der Negation und nähren schließlich den Wunsch, Veränderung herbeizuführen.  

Nein zu sagen zu dem, was man vor sich hat: das hat in mir wahrscheinlich noch niemand dermaßen provoziert wie du, lieber Rainer Werner Fassbinder. Als ich deine Episode von Deutschland im Herbst zum ersten Mal sah, wurde mir schlagartig bewusst, wie aufgerieben, fertig und kaputt du 1977 schon warst. Sowohl dein Exzess als auch die inszenierte Ehrlichkeit, mit der du diesen zeigst, bedeuten für mich die zwei letzten Extreme, mit denen ich mein notwendig unvollständiges Bild der Idee Fassbinder beende.

Herzlich grüßt

Paul Koloseus


[1] Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1982, S. 30. Freilich spricht Benjamin in diesem Text von dem Zusammenhang künstlerischer Gattungen mit der Ideenlehre. Sein Konzept lässt sich jedoch nahtlos auf das künstlerische Paradigma eines Filmemachers übertragen.

[2] Vgl. ebd., S. 29.

[3] Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 292.

Lieber Edward Yang,

Den ersten Deiner Filme, den ich im Kino sah, sah ich blutend.

Wir trafen aufeinander in einer leeren Kunstgalerie im 19. Stock eines Betonklotzes aus den 80er Jahren. Im Licht der experimentellen Videoarbeiten fragte ich, um wieviel Uhr die angekündigte Performance beginnen wird. Man war sich nicht ganz sicher. Es handelte sich um eine unaufrichtige Form der Kommunikation, denn die Frage war von größerer Bedeutung als die Antwort. Ich war fasziniert von ihren Lederstiefeln und der unbefangenen Art, mit der sie durch die grellschwarzen Räume schritt. Zur Aufführung kam ich zu spät und musste mich in der ersten Reihe auf den Boden setzen, da ich zu beschäftigt damit war, mit meinem Smartphone die Silhouetten fremder Menschen vor den Videoleinwänden zu fotografieren. Während der gesamten Vorführung drehte ich meinen Kopf, um einen Blick ihrer Person zu erhaschen. Aber vergeblich. Enttäuscht erhob ich mich frühzeitig, nahm den Fahrstuhl nach unten, nur um an ihr vorbeizulaufen, auf dem Bordstein sitzend, gelehnt an die Wand des Gebäudes. Die Realität ist das Herrschaftsgebiet der Peinlichkeiten, eine ungeölte Maschinerie, ein Anti-Hollywood. Genau aus diesem Grund genügt es zu schreiben, dass wir uns schließlich für eine Vorstellung Deiner Retrospektive, Edward, verabredeten: Mahjong.

Ich war spät dran und entschlossen, sowohl noch mein Gesicht zu rasieren wie auch die U-Bahn zu erwischen, als ich in den Waschbeutel fasste und meine Finger an den dort hineingeworfenen Rasierklingen schnitt. Ein Verband aus Toilettenpapier musste genügen, da Einwegpflaster in meiner damaligen WG als Luxus betrachtet wurden. Die Finger meiner Rechten in Toilettenpapier gewickelt, eilte ich zur U-Bahn. Wir hatten vereinbart, in einem kleinen Lokal in der Nachbarschaft Nudeln zu essen, bevor wir dann in die Vorstellung Deiner Retrospektive gehen würden. Es war mir peinlich. Egal wie sehr ich auch drückte, meine Finger bluteten weiter. Unaufhörlich saugte sich mein flüssiger Körper in den Zellstoff. Als ich die Linien wechselte, sah ich mich gezwungen in einem unterirdischen Shop Taschentücher – eine dieser Miniaturpäckchen – zu kaufen. Wenig später saßen wir uns gegenüber. Ich reichte ihr die Wasserflasche und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass der Hals des Behälters bepinselt war mit impressionistischen Tupfern in Rot. Auf meine Entschuldigung hin, lächelte sie: „It‘s only blood.“

Sie hatte keine Zeit, mich zur nächsten Vorstellung Deiner Retrospektive, Yi Yi, zu begleiten. Ich erinnere mich, dass sie darüber seltsam traurig zu sein schien. Ich glaube für uns beide ist Dein letzter Film etwas Besonderes, ein Kleinod, geschmiedet aus Bildern und Zeit, etwas, das wir beide am Bordsteinrand funkeln sahen, auflasen und seitdem wie einen ausgefallenen Zahn unter unseren Kopfkissen bewahren. Dein Film erzählt von Krisen, vom Verlieben, Erinnern und Sterben. Heute weiß ich, dass sie sich zu der Zeit selbst in einer Krise befand. Dein Film ist ein Ort der Ruhe, ein Spiegel der menschlichen Kondition, deren unverzerrte Abbildung ihre Turbulenzen auf zauberhafte Weise abzumildern weiß. Deine unaufgeregte Erzählform lässt das Leben als ganzheitliche Symphonie in all seinen Klangfarben, Halbtönen und bittersüßen Melodien hörbar werden. Ich erinnere mich, wie ich alleine im Kino saß und erstaunt feststellte, wie häufig wir, diese Ansammlung fremder Menschen, lachten; an die gordischen Knoten in meiner Brust, kunstvoll gewebt und kunstvoll durchsäbelt; an die grünschimmernden Bürogebäude des nächtlichen Tokyos, gefilmt aus einer vorbeiziehenden S-Bahn.

Oftmals hast Du darauf verzichtet, Deine Figuren unvermittelt abzubilden. Stattdessen filmst Du ihre Reflektionen in den Fensterscheiben. In einer berührenden Sequenz weint eine Frau in dem Schlafzimmer ihres Apartments in Taipei, weil sie ihrer komatösen Mutter nichts mehr zu sagen hat. Ihr Ehemann möchte sie trösten, doch auch ihm fehlen die Worte. In der benachbarten Wohnung beginnt ein weiteres Ehepaar lauthals zu streiten. Von außen sehen wir, wie der noch immer wortsuchende Ehemann, im Hintergrund das Profil seiner Frau, die schluchzend auf dem Bett sitzt, zum Fenster geht, und die Jalousien zuzieht. Ohne das elektrische Licht treten die vorbeiziehenden Autobahnlichter in der Spiegelung des Schlafzimmerfensters in den Vordergrund. Dazu das Geschimpfe aus der Wohnung nebenan, ein Glas zerbricht. Durch meisterhafte Schnitte wie diesen gelingt es Dir, die Tragik eines einzelnen Lebens in seinen kosmischen Gesamtzusammenhang zu setzen, jedoch ohne es zu bagatellisieren. Fast ist man dazu verleitet, sich vorzustellen, welche Menschen jetzt noch durch die Nacht des Ameisenbaus Taipei fahren. Diese Schar Gesichtsloser hinter dem Autosteuer, unbezahlte Extras, manche von ihnen heute vielleicht bereits verstorben, deren Existenz sich zufällig in der Form gelber und roter Punktpaare in Deinem Film niederschlägt, verdrängen jedoch nie die Verzweiflung der schluchzenden Frau. Vielmehr ergänzen sie, diese fernen Tropfen im Fluss der Straße, ihre individualisierte Trauer, indem sie signalisieren, dass man zumindest nicht alleine in das Leben, welches sich viel zu oft enttäuschend und undurchsichtig gibt, geworfen wurde. Sie werden Klangkörper ihrer Melodie in Moll. Zudem markieren sie einen dionysischen Moment der Selbstauflösung: Auch wenn König Ödipus tragisch scheitern wird, wuchert das Leben weiter. Ich fühlte mich erinnert an das Finale von Ozus Später Frühling. Der verwitwete Vater sitzt alleine in seinem leeren Haus und schält einen Apfel. Er wird von nun an eine einsame Existenz fristen, weil seine Tochter geheiratet hat. Die Schale fällt zu Boden und er senkt seinen Kopf, den nackten Apfel in der Hand. Dann ein Schnitt auf den ewigen Rhythmus der Wellenzungen, die über einen Sandstrand schäumen. Im Kern dieses Gedankens schlummert eine enorme Zündkraft: Die Sonne wird auch in 100, auch in 1.000, auch in 10.000 Jahren noch aufgehen. Atme die Luft der Individualexistenz in vollen Zügen, aber nimm dich nicht zu ernst, denn der Kosmos ist ein gleichmütiger Gastgeber. Es ist wie Mr. Ota, der Charakter des japanischen Videospielentwicklers, verkündet: „Why are we afraid of the first time? Every day in life is a first time. Every morning is new.“

Wie glücklich es mich machte zu lesen, dass Du nicht Film, sondern Elektrotechnik studiertest, dass Du für Deinen Master in die Staaten gingst, um in Seattle für ein Mikrocomputer-Unternehmen zu arbeiten, dass Du dort Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes sahst und Dich entschlossest nach Taiwan zurückzukehren, um den alten Film für tot zu erklären, denn du glaubtest an einen neuen. Nicht ohne Grund erwidert NJ, die Figur des Ehemanns aus Yi Yi, auf das Bekenntnis eines Schulfreunds, dass dieser sich nie glücklich fühlt: „Wenn Du nicht tust, was Du liebst, wie könntest Du es auch sein?“ Für einen Augenblick wurde die Luft über dem Atlantik zum elektrischen Leiter und ein gleißender Lichtbogen zuckte zwischen Kontinentaleuropa und der Westküste Amerikas. Wenige Jahre später sollte es dann das Taiwanese New Cinema sein, das die Kinolandschaft entscheidend prägte. Ich erinnere mich, wie ich aus dem Kino kam und mich fühlte, als hätte ich in eine Autobatterie gefasst, es wäre keine Überraschung gewesen, stünde mein qualmendes Haar in alle Richtungen ab, wie ich mich in die U-Bahn setzte, in die Gesichter der fremden Menschen auf der Sitzbank gegenüber von mir blickte und mich in ihren müden/ausgelaugten/apathischen Mienen wiederfand, etwas entdeckte, das einen Riss durch die gläsernen Trennwände des Großstadtlebens zog. Ich denke, es ist genau das, was Du wie niemand sonst beherrschst: Ein Kino der Menschlichkeit. Das ist der Grund, warum Dein früher Tod ein so ein unbeschreiblicher Verlust ist. Ich erinnere mich, wie ich schließlich aufstand, um die Linien zu wechseln, wie ich ein Kleinkind sah, das auf einem Rollkoffer saß und von seinen Eltern, die Hand der Mutter auf seinem Rücken, behutsam durch die das Menschengewusel des U-Bahnhofs geschoben wurde. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie erinnerte es mich an Dich.

Herzlichst,

Leo Geisler

Lieber Marcello Mastroianni,

nach langen Wanderungen träume ich vom Gehen. Wenn ich aufwache, spüre ich den beschrittenen Weg noch unter meinen Füßen, aber ich wünschte zu wissen, wohin mich meine Beine getragen hätten, wenn ich so gehen könnte wie Du. Wahrscheinlich ins Kino, dessen Bedeutung und Idee mir erst durch Deinen Gang bewusst wurden. 

Die Geburtsstunde des Kinos befasste sich schließlich auch mit der Banalität des Gehens. Denn als die Lumiére Brüder 1895 in Paris den ersten Film der Welt “Arbeiter verlassen die Lumiére Werke” vorstellten, verwandelten sie den alltäglichen Akt des Gehens in ein Spektakel. In einer einzigen Kameraeinstellung sehen wir, wie die Tore der Fabrik sich öffnen und Dutzende Leute heraus spazieren, um ihre Mittagspause anzutreten. Die erste Filmaufführung der Welt zeigte im Grunde genommen nichts anderes als Menschen, die gehen. Und trotzdem war es für die Zuschauer*innen eine Offenbarung, als die Bilder das Laufen erlernten. “Echte” Bilder vermochten es erstmals eine Realität einzufangen und auf eine Leinwand zu bannen. Ein objektives Auge konnte endlich die Welt um uns herum bezeugen. Gedichte, Bildhauerei, Gemälde – jegliche vorherige Kunst war daran gescheitert, unsere Existenz so einzufangen. Vor den Augen der mehr als 200 Zuschauer wurde das Zeitalter der objektiven Wahrheit eingeläutet. Nur wusste niemand unter ihnen, dass all dies inszeniert war. Die Arbeiter*innen verließen nicht wirklich die Fabrik, um in ihre Mittagspause zu kommen. Sie ahmten es nach, um der Geschichte, die sie täglich selbst schrieben, gerecht zu werden. Die “objektive” Kamera diente also nur dem fiktiven Spektakel.  

Doch Dein Gang war nie ein Mittel zum Zweck, Marcello. Er war nie ein gehen von A nach B, nie die kalte Motorik einer narrativen Bewegung, die dem Willen der Handlung unterworfen war. Deine Schritte erzeugten eine eigene Dynamik, führten die Kamera und nicht andersherum. So entwarfst Du Landkarten, die eine Welt außerhalb der objektiven Wirklichkeit der Bilder versprachen.

Mehr als 100 Jahre nach der Filmvorführung der Lumiére Brüder, sah ich Dich dann zum ersten Mal in Federico Fellinis La Dolce Vita. Damals nahmst Du mich mit auf einen Spaziergang durch das süße Leben Roms. Wie im Vorbeilaufen zeigtest Du mir die Höhen und Tiefen der irdischen Existenz. Später, in Nikita Mikhalkovs romantischen Epos Schwarze Augen, warst Du bereits älter, doch hattest nichts von Deiner unnachahmlichen Nonchalance eingebüßt. Die Essenz von Romano, dem hoffnungslosen Romantiker, Deiner Figur in diesem Film, verkörpertest Du mit einem einzigen Gang: Um die Aufmerksamkeit von Annas betitelten schwarzen Augen zu erhaschen, stiegst Du in ein Schlammbad hinab, um ihren verwehten Sonnenhut zu retten. Und das in einen blütenweißen Anzug gekleidet. Ich erinnere mich noch, wie Du mit Hut und Gehstock im braunen Morast versunken bist, aber trotzdem nie das versonnene Lächeln abgelegt hast, nie aus dem Tritt kamst. Jeder Schritt, ein Augenzwinkern, das uns Teil Deines Flirts werden ließ. Nur Du konntest den makellos weißen Anzug von Romano so wunderschön durch den Dreck ziehen und am anderen Ende mit unbefleckter Eleganz hervortreten. Egal in welchem Film, es war immer wie ein Rausch dir zu folgen. Ohne je genau zu wissen, warum es Dich nun hier oder dort hinzieht, konnten sich meine Gedanken von der Leinwand lösen und es dir gleich tun – frei durch den Raum gleiten. 

Wenn man dir beim Gehen zusah, folgte man also nicht der filmischen Geschichte, sondern empfand sich selbst als Erzähler, dessen Vorstellung die Grenzen des Ungesehenen sichtbar machten. Als Du zum Beispiel in Fellinis 81/2ein paar Schritte nach rechts gingst, um einen zerknüllten Brief vom Boden aufzuheben, sah ich etwa nicht den Inhalt des Briefes vor meinem Auge, sondern stellte mir vor, wer dir in diesem intimen Moment der Schwäche, der Neugier, abseits der Kamera dabei zusah. Denn Deine Bewegungen waren so beiläufig, so ungewollt, dass meine Augen und Gedanken aufgefordert wurden, es dir gleich zu tun und zu wandern. Dein beiläufiges Schlendern und das legere Herunterbücken ließen mich in mehrere Szenarien eintauchen. Wie würde das verwundbare Ego von Guido, Deiner Figur, auf den Blick eines Anderen reagieren? Würdest Du Dich entscheiden, auf die Person zu zugehen, sie herauszufordern, ihr den Brief unter die Nase reiben? Würde die Person sich ertappt fühlen? Würden wir eine neue Seite an Guido sehen? Ungezähmt, aufbrausend, aus der Rolle des beobachtenden Flâneurs ausbrechend? Der Film wird an die Leinwand projiziert, doch die Geschichte läuft erst abseits an. 

Dein Gang widerspricht somit der Annahme, dass Film ein rein ideologisches Medium ist: Die einzige objektive Wahrheit, welche die Zuschauer der Lumiére Brüder in den ersten bewegten Bildern erkennen wollten, ist nur eine von vielen. Das Kino ist nicht Platos Höhle, in der man angekettet jedes Bild als einheitliche Realität verstehen muss. Die Bilder an dieser neuen Höhlenwand fordern uns auf hinaufzusteigen, den eigenen Gedanken zu folgen, neue Bedeutungen zu erschließen. Dein Gang ermöglichte es mir, ein ums andere Mal außerhalb meines Selbst zu stehen. Deswegen begnüge ich mich auch damit, nie zu wissen, wohin ich überall gegangen wäre, wenn ich so gehen könnte wie Du, Marcello. Denn durch Dich und Deinen Gang unternahm ich Reisen, die meine Beine sich nie hätten erträumen können. 

Danke Maestro.

Wo immer Du nun bist und wohin Du noch je gehen wirst, ich muss dir nicht folgen. Ich darf im Bilde verweilen, das Du in mir heraufbeschworen hast. 

Hochachtungsvoll, 

Louis Gering 

MANIFEST

Wir wollen eine neue Filmsprache, die Türen öffnet.


Wir streben nach einer Mischform des Szenischen und Experimentellen, da diese unserer Wahrnehmung der Dinge entspricht. 

Wir wollen unsere theoretischen Überlegungen selbstständig in Bilder fassen. 

Wir sehen den Diskurs in all seinen Formen als wesentlichen Bestandteil der Filmkultur.


Wir verstehen Filmkritik nicht als endgültiges Urteil, sondern als Weiterentwicklung der filmischen Idee.

Wir planen ein zyklisches Treffen mit Gleich- und Andersgesinnten, um unsere Vorstellung des Films zu diskutieren.

MANIFEST

We want a new film language that opens doors. 

We strive to create a hybrid of the narrative and the experimental, as this corresponds to our perception of the world. 

We want to translate our theoretical reflections into moving images. 


We see discourse in all its forms as an essential part of film culture.


We understand film criticism not as a final judgment, but as a further development of the cinematic idea.

We plan an annual conference with like- and different-minded people to discuss our idea of film.