PAPIERFLIEGER: Lieber Rainer

Lieber Rainer Werner Fassbinder,

ich schreibe dir in der Form eines Briefes, was vielleicht impliziert, dass ich dir etwas mitteilen möchte. Um ehrlich zu sein, ist dieser Brief jedoch zunächst einseitiger konzipiert: Ich will mich mit mir selbst ins Verständnis setzen, über dich und deine Art, Filme zu machen. Gleichzeitig glaube ich, dass dieses Vorgehen letztlich mehr Allgemeingültiges hervorbringen könnte, als wenn ich mich tatsächlich persönlich an dich richtete und beispielsweise von deiner coolen schwarzen Lederjacke schwärmte, die du so oft trugst. Denn – so hoffe ich zumindest – dieser Versuch, dich besser zu verstehen, könnte auch andere zu einem besseren Verständnis deines wichtigen und kontroversen Oeuvres führen. Dein Beitrag zum kollektiv produzierten Film Deutschland im Herbst (1977/78) scheint mir dazu besonders geeignet, deshalb werde ich einige der in deiner Episode enthaltenen Aspekte herausgreifen und erläutern, warum ich sie als paradigmatisch für dein filmisches Schaffen erachte. Mich interessiert also gewissermaßen die Idee des Filmemachers Rainer Werner Fassbinder. Walter Benjamin versteht die Idee als eine Monade im Sinne des Philosophen Leibniz, „das heißt in Kürze: jede Idee enthält das Bild der Welt. Ihrer Darstellung ist zur Aufgabe nichts Geringeres gesetzt, als dieses Bild der Welt in seiner Verkürzung zu zeichnen.“ [1] Eine Idee konfiguriert nach Benjamin ihre Totalität durch ein sinnvolles Nebeneinander der in ihr enthaltenen Extreme. [2] Dass die Fassbinder-Episode aus Deutschland im Herbst durchaus einige Extreme versammelt, aus denen sich – so meine These – die Idee des Filmemachers Fassbinder speist, sollte im Folgenden ersichtlich werden. Ich mache mich also auf die Suche nach dem Bild der künstlerischen Welt und des filmischen Kosmos des Rainer Werner Fassbinder und werde in gebotener Kürze versuchen, dieses zu zeichnen.

Bevor ich speziell auf deine Arbeitsweise eingehe, möchte ich zum besseren Verständnis ein paar allgemeine Worte über den Film Deutschland im Herbst verlieren. An dem Kollektivprojekt beteiligten sich zahlreiche Filmemacher*innen und Künstler*innen, unter anderem Edgar Reitz, Alexander Kluge, Heinrich Böll oder Beate Mainka-Jellinghaus. Der Film entstand als künstlerischer Reflex auf den RAF-Terror, vor allem die Entführung und Ermordung des damaligen Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Hanns Martin Schleyer, die Entführung des Flugzeugs Landshut in Mogadishu und den Selbstmord der führenden RAF-Mitglieder*innen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim. Diese Ereignisse sorgten in Deutschland für ein angespanntes gesellschaftliches Klima nicht nur innerhalb der Linken; die sogenannte Sympathisantenhetze ließ viele kritische Stimmen aus Angst vor Inhaftierung oder Verfolgung verstummen. Unter anderem um diese Entwicklungen zu kommentieren fanden sich insgesamt elf Regisseur*innen des Neuen Deutschen Films zusammen und schufen eine filmische Intervention, über deren Fassbinder-Episode ich im Folgenden spreche.

Da sich der Film Deutschland im Herbst als Antwort auf den Terror des „heißen Herbsts“ und die daraus resultierende gesellschaftliche Situation versteht, hattet ihr Filmemacher*innen keine Zeit zu verlieren, wolltet ihr nicht riskieren, dass euer Kommentar durch lange Produktionszeiten und das Warten auf den Kinostart bereits an Aktualität und Schlagkraft verlöre. Dies kam dir entgegen, denn deine schnelle Arbeitsweise avancierte früh zu einem deiner Markenzeichen. (Deine Episode war dann auch die erste, die fertig abgedreht und geschnitten vorlag.) Doch nicht nur durch die bei Deutschland im Herbst gebotene Eile wird deine unkonventielle, schnelle, beinahe hektische Arbeitsweise sichtbar. Auch auf der Inhaltsebene deiner Episode thematisierst du diese Methode: Eben aus Paris zurückgekehrt, um die Postproduktion mit abgedrehtem Material zu beginnen, sieht man dich während der Episode immer wieder an deinem Diktiergerät sitzen und am Storyboard für deine Adaption von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz arbeiten. Während der Dreharbeiten oder der Postproduktion bereits am nächsten Drehbuch schrauben – nur auf diese Weise kann es gelingen, in lediglich 13 Jahren mehr als 40 Filme (und darüber hinaus noch zahlreiche Theaterprojekte) zu realisieren…

Ein weiteres Markenzeichen deines Filmemachens, das ebenfalls bereits seit dem Frühwerk als typisch für dich zu gelten hat, war die Beteiligung enger Vertrauter am künstlerischen Prozess. Deine ersten Filme Liebe ist kälter als der Tod, Katzelmacher oder Der amerikanische Soldat weisen beinahe alle einen identischen Cast und eine identische Crew auf – die sogenannte Fassbinder-Clique. Berühmt gewordene Fassbinder-Stars wie Irm Hermann oder Hannah Schygulla kanntest du bereits von deiner Zeit im Münchener Undergroundtheater der 1960er-Jahre. Auch in Deutschland im Herbst sind die Schauspielenden neben dir selbst vor allem dir nahestehende Personen: Zum einen ist da Armin Meyer, dein Geliebter, der sich 1978 nach der Trennung von dir das Leben nahm. Zum anderen findet sich dort Liselotte Eder, deine Mutter. Sie spielt in mehreren deiner Filme kleine Rollen, das Besondere an Deutschland im Herbst ist jedoch, dass keine*r der Schauspielenden fiktionale Rollen, sondern stattdessen sich selbst spielt. Diese Art der Darstellung, in der außerfilmische Realität und filmische Inszenierung überlappen, ließe sich vielleicht als Grundprinzip der äußerst provokanten und medienwirksamen Persona fassen, die du dir im Laufe deiner Karriere schufst. Das Hervorgehen der Fassbinder-Clique aus dem kommunenartig geführten Münchner Action- und antiteater sowie die kollektive Dimension des Deutschland im Herbst-Projekts verweisen außerdem darauf, dass du als Regisseur an alternativen, vom antiautoritären Zeitgeist der 68er-Generation gekennzeichneten Produktionsweisen interessiert warst. Dass die Aussagen vieler deiner Kollaborateur*innen deinen Regiestil und dein Auftreten als cholerisch und einzelgängerisch ausweisen, benennt lediglich einen der zahllosen Widersprüche im Schaffen des vielleicht wichtigsten künstlerischen Außenseiters der Nachkriegs-BRD.

Dein gesamtes Werk durchzieht eine Auseinandersetzung mit der damaligen bundesdeutschen (die DDR bildet kurioserweise einen blinden Fleck in deinem Oeuvre) Gegenwart und Geschichte – viele deiner eher historischen Filme lassen sich als Geschichte der Gegenwart verstehen. Den Dreh- und Angelpunkt bildet dabei stets die nicht aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit und die so entstandenen Kontinuitäten zwischen Drittem Reich und BRD. Immer wieder kritisierst du die Werte und Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft; in Deutschland im Herbst erklärst du, der Regisseur selbst, einem Journalisten, dass du problematisieren willst. Dir sei es sehr recht, dass wegen deiner Filme Ehen in die Brüche gehen, weil Leute anfangen, das Gegebene als künstliches Konstrukt zu hinterfragen. Um deine Kritik an der deutschen Wohlstandsgesellschaft zu üben, drehtest du hauptsächlich in Innenräumen. Was eignet sich besser, um das immer noch vorherrschende nationalsozialistische Gedankengut zu kritisieren, als die häusliche Sphäre, in die sich die „Altnazis“ und „Mitläufer“ nach der offiziellen „Entnazifizierung“ der Öffentlichkeit zurückgezogen haben? Gilles Deleuze und Félix Guattari liefern in ihrem Buch Tausend Plateaus eine Analyse des Faschismus, die eine gewisse Affinität zu deiner filmischen Kritik der BRD aufweist:

Der Faschismus aber ist untrennbar mit molekularen Unruheherden verbunden, die sich rasch vermehren und von einem Punkt zum nächsten springen, die sich in Interaktionen befinden, bevor sie alle gemeinsam im nationalsozialistischen Staat widerhallen. Ländlicher Faschismus und Faschismus der Stadt oder des Stadtteils, junger Faschismus oder Faschismus des alten Kämpfers, linker und rechter Faschismus, Faschismus in der Ehe, in der Familie, in der Schule oder im Büro […]. [3]

Die Wohnstuben der Wirtschaftswunderzeit als „molekulare Unruheherde“ des domestizierten Faschismus zu entlarven – so ließe sich dein kritisches Projekt ebenfalls fassen.

In Deutschland im Herbst stellst du diese Entlarvung des domestizierten Faschismus anhand eines Interviews, das du selbst mit deiner Mutter führst (bezeichnenderweise in einer Küche oder einem Wohnzimmer), dem Publikum rigoros vor Augen: Diese fordert dort abschließend, dass in einer solchen Ausnahmesituation, wie sie im Herbst 1977 in Deutschland gegeben war, ein autoritärer Herrscher, „der so ganz gut ist“, der Demokratie vorzuziehen wäre. Zuvor hatte deine Mutter immer wieder betont, dass sie niemandem empfehlen würde, in der aktuellen Debatte die Diskussion zu suchen, da die große Mehrheit der Deutschen Demokratie noch nicht internalisiert hätte. An einer Stelle fordert sie sogar die öffentliche Hinrichtung der RAF-Terrorist*innen. Auch Armin fordert schon zu Beginn der Episode, dass die Landshut doch einfach gesprengt und alle inhaftierten RAF-Terrorist*innen erschossen werden sollten. Hier sei allerdings noch einmal an die besondere Inszenierung dieser Episode erinnert: das Verwischen der Grenze zwischen filmischer und außerfilmischer Wirklichkeit. Zwischen das Interview mit deiner Mutter fügst du Szenen, in denen man dich am Telefon und mit Armin über die Flugzeugentführung der Landshut und die angespannte Situation des heißen Herbst sprechen sieht und hört. Du stehst dabei enorm unter Strom, neigst zu Gewaltausbrüchen gegenüber Armin, rauchst, trinkst (Asbach-Cola!) und kokst exzessiv. Als Armin einen jungen Mann ohne Schlafplatz aus einer Bar mit nach Hause bringt, wirst du paranoid und schmeißt den Jungen raus. Zuvor hattest du überstürzt das gerade bestellte Kokain im Klo runtergespült, weil du dachtest, die Polizei sei dir auf den Fersen. Durch deine inszenierte Paranoia gelingt es dir, das gesellschaftliche Klima der Verunsicherung in der privaten Sphäre – und damit auch deren politische Dimension – sichtbar zu machen.

Diese Art der Politisierung des Privaten, die für die 68er-Bewegung zum Schlachtruf wurde, funktioniert bei dir auf eine Art und Weise, die durch ein filmisch-interventionistisches Eingreifen Räume für Verhandlung, Dissens und Konflikte öffnet, um ein neues, anderes Nachdenken zu ermöglichen. Das Gelingen deines Vorhabens hängt meiner Ansicht nach zu einem großen Teil davon ab, wie du gesellschaftliche und staatliche Vorgänge oder Strukturen wie Denunziation und Terrorismus verkörperlichst, inkorporierst oder verleiblichst. Denn, und dies formt den letzten Aspekt, den ich ansprechen möchte: Letztlich sind es immer Körper, auf die die (staatliche) Macht einwirkt. Und Körper sind es auch, die in deinen Filmen leiden. In Deutschland im Herbst wird die Körperlichkeit der beiden schwulen Liebhaber immer wieder in Szene gesetzt: Man sieht dich und Meier gemeinsam nackt im Bett, dicham Telefon mit deinem Penis in der Hand, übers Klo gekrümmt beim Kotzen oder nach einem Nervenzusammenbruch heulend in den Armen Meiers. Häusliche Gewalt – vor allem gegen Frauen – findet sich in vielen (beinahe allen) deiner Filme, am prominentesten vielleicht in Martha. Deutschland im Herbst zeigt deutlich, dass du hier nicht zwischen homosexuellen oder heterosexuellen Paarbeziehungen unterscheidest (Die bitteren Tränen der Petra von Kant kann als lesbisches Analogon zu schwulen Beziehungen in Deutschland im Herbst  oder Faustrecht der Freiheit gelesen werden). Ich interpretiere diese intensive, oft gewaltvolle Körperlichkeit als eine Rückübersetzung der in deiner strukturellen Gesellschaftsanalyse zutage geförderten Gewalt von der Makro- oder molaren Ebene der Gesellschaft oder des Staates auf die Mikro- oder molekulare Ebene der Paarbeziehung. Die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft der Nachkriegszeit, deren Frauenbild dem der Nationalsozialisten weitestgehend glich, prangerst du an, indem du zeigst, wie Männer zu Hause über „ihre“ Frauen befehligen, sie unterwerfen und verprügeln. (Wie gesagt – dieselben Mechanismen machst du auch in homosexuellen Partnerschaften aus.) Solche Szenen sind oft beinahe unerträglich anzusehen und genau deshalb effektiv: Sie machen das Publikum im besten Fall betroffen und wütend, versetzen es in eine Rezeptionshaltung der Negation und nähren schließlich den Wunsch, Veränderung herbeizuführen.  

Nein zu sagen zu dem, was man vor sich hat: das hat in mir wahrscheinlich noch niemand dermaßen provoziert wie du, lieber Rainer Werner Fassbinder. Als ich deine Episode von Deutschland im Herbst zum ersten Mal sah, wurde mir schlagartig bewusst, wie aufgerieben, fertig und kaputt du 1977 schon warst. Sowohl dein Exzess als auch die inszenierte Ehrlichkeit, mit der du diesen zeigst, bedeuten für mich die zwei letzten Extreme, mit denen ich mein notwendig unvollständiges Bild der Idee Fassbinder beende.

Herzlich grüßt

Paul Koloseus


[1] Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1982, S. 30. Freilich spricht Benjamin in diesem Text von dem Zusammenhang künstlerischer Gattungen mit der Ideenlehre. Sein Konzept lässt sich jedoch nahtlos auf das künstlerische Paradigma eines Filmemachers übertragen.

[2] Vgl. ebd., S. 29.

[3] Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 292.