Lieber Edward Yang,
Den ersten Deiner Filme, den ich im Kino sah, sah ich blutend.
Wir trafen aufeinander in einer leeren Kunstgalerie im 19. Stock eines Betonklotzes aus den 80er Jahren. Im Licht der experimentellen Videoarbeiten fragte ich, um wieviel Uhr die angekündigte Performance beginnen wird. Man war sich nicht ganz sicher. Es handelte sich um eine unaufrichtige Form der Kommunikation, denn die Frage war von größerer Bedeutung als die Antwort. Ich war fasziniert von ihren Lederstiefeln und der unbefangenen Art, mit der sie durch die grellschwarzen Räume schritt. Zur Aufführung kam ich zu spät und musste mich in der ersten Reihe auf den Boden setzen, da ich zu beschäftigt damit war, mit meinem Smartphone die Silhouetten fremder Menschen vor den Videoleinwänden zu fotografieren. Während der gesamten Vorführung drehte ich meinen Kopf, um einen Blick ihrer Person zu erhaschen. Aber vergeblich. Enttäuscht erhob ich mich frühzeitig, nahm den Fahrstuhl nach unten, nur um an ihr vorbeizulaufen, auf dem Bordstein sitzend, gelehnt an die Wand des Gebäudes. Die Realität ist das Herrschaftsgebiet der Peinlichkeiten, eine ungeölte Maschinerie, ein Anti-Hollywood. Genau aus diesem Grund genügt es zu schreiben, dass wir uns schließlich für eine Vorstellung Deiner Retrospektive, Edward, verabredeten: Mahjong.
Ich war spät dran und entschlossen, sowohl noch mein Gesicht zu rasieren wie auch die U-Bahn zu erwischen, als ich in den Waschbeutel fasste und meine Finger an den dort hineingeworfenen Rasierklingen schnitt. Ein Verband aus Toilettenpapier musste genügen, da Einwegpflaster in meiner damaligen WG als Luxus betrachtet wurden. Die Finger meiner Rechten in Toilettenpapier gewickelt, eilte ich zur U-Bahn. Wir hatten vereinbart, in einem kleinen Lokal in der Nachbarschaft Nudeln zu essen, bevor wir dann in die Vorstellung Deiner Retrospektive gehen würden. Es war mir peinlich. Egal wie sehr ich auch drückte, meine Finger bluteten weiter. Unaufhörlich saugte sich mein flüssiger Körper in den Zellstoff. Als ich die Linien wechselte, sah ich mich gezwungen in einem unterirdischen Shop Taschentücher – eine dieser Miniaturpäckchen – zu kaufen. Wenig später saßen wir uns gegenüber. Ich reichte ihr die Wasserflasche und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass der Hals des Behälters bepinselt war mit impressionistischen Tupfern in Rot. Auf meine Entschuldigung hin, lächelte sie: „It‘s only blood.“
Sie hatte keine Zeit, mich zur nächsten Vorstellung Deiner Retrospektive, Yi Yi, zu begleiten. Ich erinnere mich, dass sie darüber seltsam traurig zu sein schien. Ich glaube für uns beide ist Dein letzter Film etwas Besonderes, ein Kleinod, geschmiedet aus Bildern und Zeit, etwas, das wir beide am Bordsteinrand funkeln sahen, auflasen und seitdem wie einen ausgefallenen Zahn unter unseren Kopfkissen bewahren. Dein Film erzählt von Krisen, vom Verlieben, Erinnern und Sterben. Heute weiß ich, dass sie sich zu der Zeit selbst in einer Krise befand. Dein Film ist ein Ort der Ruhe, ein Spiegel der menschlichen Kondition, deren unverzerrte Abbildung ihre Turbulenzen auf zauberhafte Weise abzumildern weiß. Deine unaufgeregte Erzählform lässt das Leben als ganzheitliche Symphonie in all seinen Klangfarben, Halbtönen und bittersüßen Melodien hörbar werden. Ich erinnere mich, wie ich alleine im Kino saß und erstaunt feststellte, wie häufig wir, diese Ansammlung fremder Menschen, lachten; an die gordischen Knoten in meiner Brust, kunstvoll gewebt und kunstvoll durchsäbelt; an die grünschimmernden Bürogebäude des nächtlichen Tokyos, gefilmt aus einer vorbeiziehenden S-Bahn.
Oftmals hast Du darauf verzichtet, Deine Figuren unvermittelt abzubilden. Stattdessen filmst Du ihre Reflektionen in den Fensterscheiben. In einer berührenden Sequenz weint eine Frau in dem Schlafzimmer ihres Apartments in Taipei, weil sie ihrer komatösen Mutter nichts mehr zu sagen hat. Ihr Ehemann möchte sie trösten, doch auch ihm fehlen die Worte. In der benachbarten Wohnung beginnt ein weiteres Ehepaar lauthals zu streiten. Von außen sehen wir, wie der noch immer wortsuchende Ehemann, im Hintergrund das Profil seiner Frau, die schluchzend auf dem Bett sitzt, zum Fenster geht, und die Jalousien zuzieht. Ohne das elektrische Licht treten die vorbeiziehenden Autobahnlichter in der Spiegelung des Schlafzimmerfensters in den Vordergrund. Dazu das Geschimpfe aus der Wohnung nebenan, ein Glas zerbricht. Durch meisterhafte Schnitte wie diesen gelingt es Dir, die Tragik eines einzelnen Lebens in seinen kosmischen Gesamtzusammenhang zu setzen, jedoch ohne es zu bagatellisieren. Fast ist man dazu verleitet, sich vorzustellen, welche Menschen jetzt noch durch die Nacht des Ameisenbaus Taipei fahren. Diese Schar Gesichtsloser hinter dem Autosteuer, unbezahlte Extras, manche von ihnen heute vielleicht bereits verstorben, deren Existenz sich zufällig in der Form gelber und roter Punktpaare in Deinem Film niederschlägt, verdrängen jedoch nie die Verzweiflung der schluchzenden Frau. Vielmehr ergänzen sie, diese fernen Tropfen im Fluss der Straße, ihre individualisierte Trauer, indem sie signalisieren, dass man zumindest nicht alleine in das Leben, welches sich viel zu oft enttäuschend und undurchsichtig gibt, geworfen wurde. Sie werden Klangkörper ihrer Melodie in Moll. Zudem markieren sie einen dionysischen Moment der Selbstauflösung: Auch wenn König Ödipus tragisch scheitern wird, wuchert das Leben weiter. Ich fühlte mich erinnert an das Finale von Ozus Später Frühling. Der verwitwete Vater sitzt alleine in seinem leeren Haus und schält einen Apfel. Er wird von nun an eine einsame Existenz fristen, weil seine Tochter geheiratet hat. Die Schale fällt zu Boden und er senkt seinen Kopf, den nackten Apfel in der Hand. Dann ein Schnitt auf den ewigen Rhythmus der Wellenzungen, die über einen Sandstrand schäumen. Im Kern dieses Gedankens schlummert eine enorme Zündkraft: Die Sonne wird auch in 100, auch in 1.000, auch in 10.000 Jahren noch aufgehen. Atme die Luft der Individualexistenz in vollen Zügen, aber nimm dich nicht zu ernst, denn der Kosmos ist ein gleichmütiger Gastgeber. Es ist wie Mr. Ota, der Charakter des japanischen Videospielentwicklers, verkündet: „Why are we afraid of the first time? Every day in life is a first time. Every morning is new.“
Wie glücklich es mich machte zu lesen, dass Du nicht Film, sondern Elektrotechnik studiertest, dass Du für Deinen Master in die Staaten gingst, um in Seattle für ein Mikrocomputer-Unternehmen zu arbeiten, dass Du dort Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes sahst und Dich entschlossest nach Taiwan zurückzukehren, um den alten Film für tot zu erklären, denn du glaubtest an einen neuen. Nicht ohne Grund erwidert NJ, die Figur des Ehemanns aus Yi Yi, auf das Bekenntnis eines Schulfreunds, dass dieser sich nie glücklich fühlt: „Wenn Du nicht tust, was Du liebst, wie könntest Du es auch sein?“ Für einen Augenblick wurde die Luft über dem Atlantik zum elektrischen Leiter und ein gleißender Lichtbogen zuckte zwischen Kontinentaleuropa und der Westküste Amerikas. Wenige Jahre später sollte es dann das Taiwanese New Cinema sein, das die Kinolandschaft entscheidend prägte. Ich erinnere mich, wie ich aus dem Kino kam und mich fühlte, als hätte ich in eine Autobatterie gefasst, es wäre keine Überraschung gewesen, stünde mein qualmendes Haar in alle Richtungen ab, wie ich mich in die U-Bahn setzte, in die Gesichter der fremden Menschen auf der Sitzbank gegenüber von mir blickte und mich in ihren müden/ausgelaugten/apathischen Mienen wiederfand, etwas entdeckte, das einen Riss durch die gläsernen Trennwände des Großstadtlebens zog. Ich denke, es ist genau das, was Du wie niemand sonst beherrschst: Ein Kino der Menschlichkeit. Das ist der Grund, warum Dein früher Tod ein so ein unbeschreiblicher Verlust ist. Ich erinnere mich, wie ich schließlich aufstand, um die Linien zu wechseln, wie ich ein Kleinkind sah, das auf einem Rollkoffer saß und von seinen Eltern, die Hand der Mutter auf seinem Rücken, behutsam durch die das Menschengewusel des U-Bahnhofs geschoben wurde. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie erinnerte es mich an Dich.
Herzlichst,
Leo Geisler