In Gedenken an einen Filmemacher, der wie kein Zweiter für eine Zeit steht, in der das Kino noch den Glauben an die Veränderbarkeit der Welt in sich trug.
filmdaemmerung
Jim Jarmusch’s 5 Golden Rules
Rule #1: There are no rules. There are as many ways to make a film as there are potential filmmakers. It’s an open form. Anyway, I would personally never presume to tell anyone else what to do or how to do anything. To me that’s like telling someone else what their religious beliefs should be. Fuck that. That’s against my personal philosophy —more of a code than a set of “rules.” Therefore, disregard the “rules” you are presently reading, and instead consider them to be merely notes to myself. One should make one’s own “notes” because there is no one way to do anything. If anyone tells you there is only one way, their way, get as far away from them as possible, both physically and philosophically.
Rule #2: Don’t let the fuckers get ya. They can either help you, or not help you, but they can’t stop you. People who finance films, distribute films, promote films and exhibit films are not filmmakers. They are not interested in letting filmmakers define and dictate the way they do their business, so filmmakers should have no interest in allowing them to dictate the way a film is made. Carry a gun if necessary.
Also, avoid sycophants at all costs. There are always people around who only want to be involved in filmmaking to get rich, get famous, or get laid. Generally, they know as much about filmmaking as George W. Bush knows about hand-to-hand combat.
Rule #3: The production is there to serve the film. The film is not there to serve the production. Unfortunately, in the world of filmmaking this is almost universally backwards. The film is not being made to serve the budget, the schedule, or the resumes of those involved. Filmmakers who don’t understand this should be hung from their ankles and asked why the sky appears to be upside down.
Rule #4: Filmmaking is a collaborative process. You get the chance to work with others whose minds and ideas may be stronger than your own. Make sure they remain focused on their own function and not someone else’s job, or you’ll have a big mess. But treat all collaborators as equals and with respect. A production assistant who is holding back traffic so the crew can get a shot is no less important than the actors in the scene, the director of photography, the production designer or the director. Hierarchy is for those whose egos are inflated or out of control, or for people in the military. Those with whom you choose to collaborate, if you make good choices, can elevate the quality and content of your film to a much higher plane than any one mind could imagine on its own. If you don’t want to work with other people, go paint a painting or write a book. (And if you want to be a fucking dictator, I guess these days you just have to go into politics…).
Rule #5: Nothing is original. Steal from anywhere that resonates with inspiration or fuels your imagination. Devour old films, new films, music, books, paintings, photographs, poems, dreams, random conversations, architecture, bridges, street signs, trees, clouds, bodies of water, light and shadows. Select only things to steal from that speak directly to your soul. If you do this, your work (and theft) will be authentic. Authenticity is invaluable; originality is nonexistent. And don’t bother concealing your thievery—celebrate it if you feel like it. In any case, always remember what Jean-Luc Godard said: “It’s not where you take things from—it’s where you take them to.”
3 Cinema Lessons by Krzysztof Kieślowski
Deleuze Peaks
„Es ist zweifelhaft, ob das Kino hierzu ausreicht; doch wenn die Welt zu einem schlechten Film geworden ist, an den wir nicht mehr glauben, kann dann nicht ein wahres Kino dazu beitragen, uns Gründe dafür zu liefern, an die Welt und die ohnmächtig gewordenen Körper zu glauben.“
Von fehlenden Sprühflugzeugen
Alfred Hitchcocks North by Northwest minus Sprühflugzeug.
Eine digital retuschierte Allegorie auf den paranoiden Bewusstseinszustand des isolierten Individuums, starring Cary Grant?
Pier Paolo Pasolini: Gramscis Asche

Gramscis Asche
Nicht nach Mai riecht diese unreine Luft,
die den dunklen Garten der Fremden
noch dunkler macht oder ihn grell durchzuckt
mit blinden Aufheiterungen… Spuckfadenhimmel
über den gelben Terrassenwohnungen,
die in gewaltigem Halbkreis die Kurven
des Tibers verschleiern, die türkisgrünen
Berge Latiums… Einen tödlichen Frieden,
gleichgültig wie unser Schicksal,
verbreitet der herbstliche Mai zwischen
dem alten Gemäuer. In ihm ist die Eintönigkeit der Welt,
zu Ende geht das Jahrzehnt und mit ihm bricht in Trümmer
unsere echte und arglose Mühe
das Leben neu zu gestalten;
das Schweigen, unfruchtbar, vermodert…
Du Knabe hast in jenem Mai, da Irren
noch Leben hieß, in jenem italienischen Mai,
da zum Leben noch Leidenschaft trat,
viel weniger leichtsinnig und von falscher Gesundheit
als unsere Väter – nicht Vater, sondern demütiger
Bruder – du hast mit deiner dünnen Hand
(nicht für uns: du Toter für uns,
die wir auch tot sind, mit dir, in diesem
feuchten Garten) das Ideal gezeichnet,
das dieses Schweigen erhellt. Du kannst,
begreifst du es?, nur in diesem Ort der fremden
ruhen, noch immer verbannt. Vornehme
Langeweile um dich herum. Verblaßt nur
klingt manchmal ein Hammerschlag zu dir herüber
aus den Werkstätten des Testaccio, verschluckt
vom Abend: zwischen armseligen Schuppen,
nackte Blechberge, Schrotthügel, wo ein lümmelnder Lehrbursch
sein Tagwerk zu Ende singt,
während der Regen aufhört.
Zwischen Hoffnung und stillem Zweifel
tret ich zu dir. Hier stehe ich selber, arm,
im billigen Anzug, wie ihn die Armen
im schäbigen Glanz der Schaufenster bewundern,
gesäubert vom Schmutz der Gassen, der Straßenbahnbänke,
der meine Tage verstört. Und immer karger im Kampf
ums Brot ist bemessen die Freiheit. Und wenn mir die Liebe zur Welt
wird beschieden, ist es nur durch heftige und naive sinnliche Liebe,
doch deine Strenge fehlt mir noch immer.
Des für und wider dich seins zugleich.
Für dich im hellen Herzen,
im dunklen Gedärm wider dich.
Die Eule und der Mond

Es ist acht 1/2 zu Nacht. Herr W sitzt mit Herrn M in der Paris Bar, Westberlin. Sie unterhalten sich angestrengt und doch mit Witz.
Herr M
Vor dem Schlafengehen noch einen Kaffee, damit ich schneller träume. Wir sind die Generation, die vom Internet überlaufen wurde. Jetzt stehen wir da mit all den Möglichkeiten und wissen nicht, wohin. Wir wissen nur: Eine Eule heckt keinen Blaufuß. Jede Nacht kommt die Eule heraus und betrachtet den Mond. Der Mond geht auf, der Mond geht unter. Jede Nacht ereignet sich dieses wiederkehrende Schauspiel am Himmel, das immer auch einmalig ist. Wie der Theaterabend oder, oder nicht?
Herr W
Reden wir zu Anfang von etwas anderem, reden wir von alten Zweifeln, die in Vergessenheit geraten sind oder in Entscheidungen verschwanden, denn der Film will dem Theater immer noch ans Leben oder zumindest an die Wäsche. Und das Theater lässt das auch noch zu, sieht nur zu und beharrt des Beharrens halber auf seine Absolutheit. Das Theater ist so etwas, dass durch die Corona-Pandemie eine Chance bekommen hat wieder aufzuerstehen (und sich dadurch endlich vom Zwang, dem Film gerecht werden zu müssen, befreien könnte). Und warum nicht diese Chance ergreifen, sich endlich vom Film zu lösen und die Kamera für seine eigenen Zwecke zu nutzen?
Herr M
Während sich der Film in der Postproduktion entscheidet, entscheidet sich das Theater bereits im Moment des Spielens!
Herr W
Das ist ja fast schon eine Plattitüde. Das kannst du das nächste Mal weglassen. Früher konnte man alles, was man sah, auch anfassen und damit für sein individuelles Verständnis begreifbar machen, außer Gott. Heute gibt es die analoge Welt, Gott und die digitale Welt, also auch den Live_Stream. Wir müssen heute die digitale Welt in unser Verständnis von Realität mit einbeziehen und mitdenken, denn die digitale Welt und ihr BEINAH, schier unendlicher Raum steht noch in den Kinderschuhen.
Herr M
Du meinst wohl: steckt noch in den Kinderschuhen.
Herr W
Jacke wie Hose, so egal ist das. Und damit habe ich als Zuschauender doch das Problem, wie ich einer Live_Stream Aufführung des Theaters gegenüber trete. Natürlich nicht mit der Erwartungshaltung, mit der ich mit einer Johan-Simons-Inszenierung im Schauspielhaus Bochum in ein Verhältnis trete. Es ist etwas anderes und das muss ich als Betrachter akzeptieren, es ist etwas Neues und ich muss es auch als solches behandeln, da macht der Vergleich mit dem bereits dagewesenen, akzeptierten Alten keinen Sinn mehr.
Herr M
Die Katze lässt das Mausen nicht. Ja, willst du denn eine Revolution starten? Mein Amico, ich muss dich bremsen. Wenn du vom Live_Stream im Theater sprichst, dann meinst du damit nicht den notgedrungenen Mitschnitt einer Inszenierung für ein Publikum, das zu Hause im Lockdown sitzt und wartet und wartet, sondern vielmehr die Inszenierung, die extra für einen Stream konzipiert wurde. Verstehen wir uns da richtig?
Herr W
Bingo, voll auf die 12. Als Beispiel möchte ich die Inszenierung Der Zauberberg nach Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater in Berlin anführen. Ein Theaterabend, der nicht als Konserve, sondern als einmaliges Ereignis im Live_Stream seinen Ausdruck findet. Man muss doch das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Das alles, was im Live_Stream Theater gerade seinen Ausdruck findet und für uns alte Theaterhasen speziell erscheint, ist doch im Film schon längst allgemein. Halt, nein, der Film stoppt, aber der Live_Stream läuft einfach weiter. Die Welt des Zauberbergs zu verlassen, da ich ein menschliches Rühren verspüre oder noch einen Schnaps brauche, um überhaupt irgendwas zu verstehen, das geht jetzt nicht. Die Gegenwart ist sozusagen die Zeit als bewegtes Bild der Ewigkeit auf meinem Bildschirm vor mir. Die Ewigkeit wird im Theater immer als ein zeitloses Jetzt bestimmt. Das ist doch das Schöne am Theater, dass alles Jetzt, im Moment stattfindet. Ein Mann nimmt einen Schluck Kaffee zu sich, während ein anderer an ihm vorübergeht und mehr noch, noch mehr, eine Handlung überlagert die nächste, zerstört sie, schafft platzt für Neues und alles ist in Bewegung, ALLES.
Herr W nimmt einen Schluck Kaffee zu sich. Er räuspert sich. Ein Fremder, nein, ein Gast geht am Tisch vorbei Richtung Osten.
Herr M
Das ist doch alles blah hub blah. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Vor 20 Jahren mein Lieber, das ist 20 Jahre her, als Katie Mitchell das auch schon begriffen hatte. Ein Hoch auf das Bild, ja. Aber Sebastian Hartmanns Zauberberg profiliert nicht nur durch besondere Ausformulierung von irgendeiner Gegenwart, sondern durch eine spezielle Kommunikation. Zum einen ist hier die Kommunikation zwischen den Akteuren und Akteurinnen interessant, die durch den Text in keinen direkten Dialog untereinander treten, sondern erst durch eine Zusammensetzung der einzelnen fragmentarischen Monologfetzen eine dialogähnliche Form kreieren. Das ist so, als würde man in eine Leere hineinsprechen und hoffen, dass wenigstens das eigene Echo antwortet. Dann aber gibt es die Kommunikation zwischen Akteuren und Akteurinnen und den Zuschauenden über den Live_Stream, die allerdings unidirektional vom Sender in Richtung des Empfängers ist. Hier hat man statt der Leere des Zuschauerraums nur ein Medium vor sich, dass alles Gesagte aufsaugt und man kann nur hoffen, dass es irgendwo anders gehört wird. Oder spricht man zu sich selbst? Wie auch immer. Der Zuschauerraum ist leer, alle sitzen vor ihren Bildschirmen und glotzen. Es ist alles ganz genau kalkuliert. Das, was der Film schon lange nutzt, findet nun im Live_Stream Theater Abend anklang. Die Akteure und Akteurinnen spielen für die Kamera, die in der Rolle des zwischenzeitlichen Zuschauers agiert.
Herr W
Ja genau, der ganze Apparat wirkt jetzt als EIN gleichrangiges Ensemble: Regie, Bühne, Videoanimation, Live_Stream Bildregie, szenisches Video, Kostüme, Licht, Live_Stream Kamera, Head of Stream, Ton, Sendeton, Musik, Dramaturgie und Schauspiel. Manuel Harder stemmt einen Monolog. Die Kamera kommt aus der Totale, geht in die Nahe, wir sehen jetzt jede Pore, den Atem, sehen ihn leiden, sehen was er denkt, fühlt. Die Stimme erklingt ganz klar durch die Mikroports hindurch, auch der Sound stimmt und kommt perfekt abgestimmt durch zu uns, das Licht ist wie auf ihn zugeschnitten, maßgeschneidert ist auch die Traumsequenz auf Video, die ihm Rückendeckung gibt. Alles spielt im Soloflug und kreiert durch die Zusammensetzung das Gesamtkunstwerk der Aufführung, wie im Jazz. Ein perfekter Moment, der sich den Weg über die Kamera bis in das Wohnzimmer der Zuschauenden bahnt. Lange Rede, kurzer Sinn: Man ist das gut.
Herr M
Na ja, Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Aber das ist so gut, es ist SOO gut. Die technischen Möglichkeiten des Films für das Theater nutzen – für ein Neues Theater, ein Theater für alle, ein Theater des Live_Streams. Wie dem auch sei, man wird darauf zurückkommen. Denn man fängt gerade erst an über ein Neues Theater, ein Theater, das den Live_Stream akzeptiert und als Chance für eine Erneuerung anerkennt, Unsinn zu verzapfen. Ich mache den Anfang. Es ist mir eine Ehre.
Die Herren bestellen noch zwei Konyagi, trinken diese in einem Zug und verabschieden sich dann mit der Floskel „Wir bleiben in Touch“ voneinander.
Marlon Bienert ist Schauspieler und Videokünstler. Er studierte Architektur an der TU München und beginnt demnächst sein Schauspielstudium an der Otto-Falckenberg-Schule.
Salute, Pasolini!

Zitat aus einem Gebet von John Waters am Grab Pier Paolo Pasolinis, der heute vielleicht seinen 100. Geburtstag feiern würde, wäre er nicht ermordet worden:
I believe in Pasolini, the filmmaker almighty/
Creator of Salo and Mamma Roma/
Who was conceived by Marx, born of the future spirit of Maria Callas/
Suffered under the catholic church/
Was assassinated and buried unguilty/
Papierflieger: Heiner Müller in Buenos Aires
Das erste Mal habe ich mich mit dem Herzstück von Heiner Müller während meines Schauspielstudiums an der Otto-Falckenberg Schule beschäftigt. Damals aber auf der Bühne. Für mich liegt der Reiz des Stückes darin, dass in sehr wenigen Sätzen eine sehr komplexe Beziehung zwischen den Figuren „Eins“ und „Zwei“ erzählt wird. Daher auch die spätere Entscheidung für den Kurzfilm. Metaphorische Redewendungen wie „darf ich ihnen mein Herz zu Füßen legen“ werden dabei in einen Dialog gesetzt und dadurch zu konkreten Bitten, Antworten oder Fragen. Aber hierbei liegt auch die große Schwierigkeit. Wie soll ich so einen lyrischen, abstrakten Dialog auf die Bühne oder vor die Kamera bringen?! Wie stelle ich eine Operation am Herzen dar? Die vermeintliche Einfachheit des Dialogs wird dabei zur großen Herausforderung. Weil die Räume hinter den einzelnen Sätzen immer größer zu werden scheinen, wenn ich versuche, sie in etwas Konkretes umzusetzen. Deshalb sollten die Sätze Sätze bleiben. Wir haben uns entschieden, möglichst neutral zu sprechen. Also ohne großen schauspielerischen Zusatz und durch die Einfachheit im Sprechen, möglichst konkret werden. Die Versuche, an das Herz zu gelangen, sollten rein körperlich stattfinden. Fast wie ein Spiel zwischen Kindern. Dabei war uns aber wichtig, ganz ernst in diesem Spiel zu bleiben. Dass die „naiven“ Versuche wie Schütteln oder mit der Hand das Herz durch den Mund zu befreien, auch wirklich so versucht werden sollten. Das letzte Bild sollte die Besonderheit der Beziehung zwischen „Eins“ und „Zwei“, die wir zuvor erlebt haben, wieder auflösen. Nach der Strophe von Pink Floyd „You are just an other brick in the wall“ sollte so aus dem einzelnen Herzen mit anderen Herzen die Terrasse, die Stadt, der Ort des Geschehens und anderen Beziehungen entstehen.


Jannik Mioducki machte 2017 seinen Schauspiel-Abschluss an der Otto-Falckenberg Schule. Danach entschied er sich nach Buenos Aires zu gehen, um die Film- und Theaterszene in einem anderen Land kennenzulernen. Zurück in Deutschland gastierte er in zwei Produktionen der Münchner Kammerspiele sowie am Stadttheater Erlangen. Außerdem ist er festes Mitglied im „Traumschüff“ Kollektiv und führte in Kooperation mit dem Zentrum für politische Schönheit bei der Aktion „Wo sind unsere Waffen“ Regie. Mit „MAMA“ verwirklichte er im Februar 2021 sein drittes Kurzfilmprojekt und im Sommer 2021 spielte er seine erste Hauptrolle in dem Langspielfilm „D.E.I.N. – das esse ich nicht“ (AT) von Katherina Huber.
Wunsch & Tatsache
WUNSCH
ALEXANDER KLUGE: Man muss nämlich unterscheiden zwischen der unwirklichen Realität, in der wir alle leben, und dem Originalton der verlorenen Geschichte, die sich ungewöhnlich und erhaben äußert. In ihr sterben die Verbrannten und Ermordeten nicht, sondern stehen am Ende auf und brechen als Sturm los. Ich kann an dieser wirklichen Wirklichkeit sterben. Sie ist aber nicht wirklich. Sie ist nicht das Ganze. Sehen Sie, in der Grammatik haben wir in der Antike, in Griechenland, den Opdativ, nochmal eine eigene grammatische Form: die der Wünsche, und die sind so real wie die Wirklichkeiten. Und wenn gewissermaßen ungerächt getötet wird – mit Ä, nicht gegen das Recht, sondern ohne Rache zu haben – jemand stirbt, dann wird er nicht gestorben sein. Das sagen zu uns die Rabbinen in Babylon im Talmud, und das sagen alle Testamente, und das sagt eine Ahnung in den Menschen. Wir sind in der Evolution als Menschen übrig geblieben, weil wir glauben, dass es etwas mehr gibt, als die Rechte des Siegers und das Unrecht des Verlierers. Und ein Verlierer muss nicht gerechter [gerächter?] sein als der Sieger. Alle diese Dinge, die wissen ganz einfache Leute. An der Theke in Oberhausen finden sie das genauso wie an der Theke in der Unterstadt in Halberstadt. Als Gewissheit, dass es etwas gibt, außerhalb der direkten, benennbaren Realität, die wir für wirklich halten, das ist der Anti-Realismus des Gefühls, und das ist der ganze Grund, warum ich Geschichten schreibe.
Ich würde ja sonst nur Filme machen, aber der Film kann diese Seite nicht ausdrücken, denn das ist leider der Kamera nicht ohne Weiteres zugänglich. Kamera hat magische Momente, kann sie auch aufnehmen, kann ihr aber seltsamerweise im Film keine Dauer verleihen. Das hat nichts zu damit, dass sie es [grundsätzlich] nicht kann, oder, dass mir es nicht einfallen könnte oder Werner Herzog oder den Großen, die immer Momente dieser Wirklichkeit der spirituellen Welten aufgefasst [haben]. Das wird aber schon in der nächsten Einstellung gelöscht. [1]
TATSACHE
ALEXANDER KLUGE: Also mein Vater ist ein guter Erzähler. Und was er so erzählt, prägt sich ein. Und das sind immer so Momentaufnahmen. Das heißt also, ich kenne Schnee mit eigenen Augen nicht so gut, wie den aus den Erzählungen meines Vaters, wenn er auch unter Übertreibung schildert. Wie man dann zu entlegenen Siedlungen spät am Abend noch laufen muss. Da mag manches geflunkert sein, aber es ist dicht in der Erzählung.
INTERVIEWER: Hat sich diese Art des Erzählens auf Sie übertragen?
ALEXANDER KLUGE: Das weiß ich ja nicht. Meine Mutter kann auch erzählen und ich erzähle nicht nur so, wie mein Vater. Meine Mutter ist ein vollkommener nüchterner, englischer Geist. Und woher die Erzählform kommt, dass weiß man nicht genau. Meine Großeltern mütterlicherseits und davon die Vaterseite, die kommt aus dem Eulengebirge. Das ist da, wo Karl May geboren wurde, das ist da, wo der Weberaufstand war, da, wo man sich verstellen muss. Und wenn man zum Beispiel Rekrut ist auf der anderen Seite und zugesehen hat, wie die Weber massakriert werden, dann ist man besonders vorsichtig. Und wenn man hinterher königstreu ist und Unteroffizier oder eine Kneipe in Köpenick leitet, dann dient man zwar, aber im Innern sind noch die Wahrnehmungen von vorher. Und das heißt, dieser Mensch wird eine Maske tragen. Meine Familie hat die Eigenschaft, das sie – von dieser Seite her gesehen – wenn sie auch nur flunkert, grinsen muss. Das heißt, es ist irgendwie eine Unfähigkeit zu lügen herausgekommen aus dem Zusehen der Unterdrückung. Das ist auch eine Erzählung. Und die geht anders, die geht nüchterner, die übertreibt nicht, die lebt nicht von der Oper sondern die lebt von den Tatsachen. Und ich glaube, dass ich zwischen diesen beiden Teilen gewissermaßen gespalten bin. Einerseits sachlich, dokumentarisch, alles das interessiert mich sehr, und ich könnte ohne das nicht leben, es müssen Tatsachen sein; und gleichzeitig: Tatsachen alleine müssen erlöst werden von der menschlichen Gleichgültigkeit, das heißt, die Wünsche sind die zweite Natur. Und diese sind die Erzählform meines Vaters. [2]
[1] „30. April 1945“ von Alexander Kluge, Bayerischer Rundfunk
[2] „Alexander Kluge“ – Ein Portrait, Bayerischer Rundfunk