Hinter den Kulissen der jährlichen Verleihung der goldenen Essiggurke. Ein Programm des Deutschen Filmförderfonds. Diesjähriger Host: Nolram Beinhart (rechts)

Eine salzige Empfehlung für süße Abende vor dem Glotzofon. And the Essiggurke goes to…

10. Athena (Romain Gavras, Iconoclast/Netflix)
Kino als Adrenalin Injektion — von der ersten Minute bis zur letzten Schlacht wird in diesem französischen Action-Drama ein Feuerwerk abgefackelt, das einem die Sprache verschlägt. Eine atemberaubenden Plansequenz jagt die nächste, wobei man unentwegt mit offenem Mund zuschaut und sich fragt, wie zur Hölle die Kamera das alles schafft. Es ist ein technisches Meisterwerk, das thematisch in die Fußstapfen von La Haine (Hass, 1995) tritt. Der Ausgangspunkt ist ein Polizeimord im fiktionalen Pariser Randbezirk „Athena“. Die Reaktion darauf ist eine organisierte, fast militante Form der Gewalt. Es sind nicht mehr die kleinen Gangster, die wie in La Haine den Aufstand Proben. Es ist die wirkliche Revolution einer neuen Generation, die sich von der Gesellschaft nicht länger an den Rand drücken lassen will, die ihre Realität, bestehend aus Diskriminierung und Polizeigewalt, in Brand setzen will. Regisseur Romain Gavras fokussiert sich jedoch etwas zu sehr auf die technische Umsetzung, anstatt auf die tiefergehende Problematik von Rassismus, Perspektivlosigkeit und Gewalt einzugehen. So gleicht der Film eher einer geplanten Sprengung als einem großflächigen Stadtbrand — technisch unglaublich eindrucksvoll, aber doch nicht ganz die Naturgewalt, die alles mit sich reißt. 

9. NOPE (Jordan Peele, Monkeypaw Productions)
In diesem Sci-Fi Neo-Western/Horrorfilm lässt der neue Meister des Gruselkinos Cowboys auf Aliens treffen. Eine absurde Prämisse, die in den Händen von Jordan Peele jedoch eine Falltür bietet, einen philosophischen doppelten Boden. NOPE ist auf den ersten Blick ein eindrucksvoller Blockbuster. Ein überdimensionaler Unterhaltungsfilm, der Pferde in die Luft katapultiert, ganze Häuser in Blutregen taucht und eine fliegende Untertasse über die unendlichen Weiten des wilden Westen gleiten lässt wie einen geisterhaften Schatten. Epische Bilder, tiefe Ängste, großes Entertainment. Doch auf den zweiten Blick ist NOPE ein kritischer Blick auf genau diese Art der Unterhaltung. Es ist ein Spektakel, welches das Spektakel selbst hinterfragt. Es stellt die Frage, warum wir nicht wegsehen können, indem es uns nicht wegsehen lässt. Der Twist liegt hier darin, dass die Protagonist*innen nicht vor dem UFO fliehen, sondern es verfolgen, es mit der Kamera einfangen wollen und so für die eigene Zwecke einspannen möchten. So dreht der Film das Spiel auf den Kopf. Auf einmal wird das Spektakel selbst zum Mittelpunkt und wenn das Spektakel zurückblickt, merken wir, wie selbstzerfleischend unsere Obsession damit ist. Peele bietet hier das ganz große Kino auf und stellt währenddessen noch den Anspruch, über unsere Sehgewohnheiten nachzudenken. Durch das selbstreflexive Spiel mit der Unterhaltungsindustrie ist man sich jedoch manchmal nicht ganz sicher, ob ein Witz sich selbst auf die Schippe nehmen will oder einfach schlecht geschrieben ist. So verliert sich der Film bisweilen in einem Wirrwarr aus übererklärenden Narrativen und high-concept Kritik. NOPE reicht also nicht an die sozialkritische Kohärenz von Peeles Meisterwerk Get Out heran, ist aber trotzdem eine imposante Lektion in Sachen filmischer Sprachgewalt.  

8. Bones and All (Luca Guadagnino, Frenesy Film Company) 
Nach A Bigger Splash, Call be by your Name und Suspiria zeigt Ausnahme-Regisseur Guadagnino ein weiteres Mal, wie er Genre-Gesetze seinen ganz eigenen Spielregeln unterwirft. In Bones and All vermischt er eine sensible coming-of-age-story mit einem Kannibalen-Horrorfilm. Klingt komisch, ist aber tiefergreifend. Neuentdeckung Taylor Russel spielt eine Jugendliche, die ihrer Natur nicht entkommen kann. Ihr Vater teilt ihre Gelüste für Menschenfleisch nicht und so muss sie sich bald alleine durchschlagen. Auf ihrer Reise verliebt sie sich in einen genauso hungrigen Jung-Kannibalen. Timothée Chalamet, der wie immer zum Anbeißen aussieht, verleiht dieser Rolle eine nonchalante Coolness. Seine Schmalzlocken und schmachtender Blick bieten aber gleichzeitig genug Projektionsfläche für romantische Fantasien, sodass man ohne Mühe ins Schwärmen gerät. Hin oder her, ob er Menschenfleisch zwischen den Zähnen stecken hat. Dem entsprechend ist der erste Kuss zwischen den beiden Misfits auch der beste aus dem letzten Filmjahr. Hierfür sitzen die Frischverliebten in einem Schlachthof über Hunderten von Kühen, die vor dem sicheren Tod zur Beruhigung klassische Musik vorgespielt bekommen. Es ist genau diese morbide Zärtlichkeit, die alle Bilder dieses Filmes durchdringt. Mit Haut und Haaren zu lieben ist ein bittersüßer Drahtseilakt, in dem man manchmal nicht weiß, ob man verschlungen wird oder selbst verschlingt. Bones and All ist ein verzauberndes Märchen, das hierauf keine moralisierende Antwort bietet, sondern eher einen tiefen Blick in die Abgründe der Liebe ermöglicht. 

7. Licorice Pizza (Paul Thomas Anderson, Metro-Goldwyn-Mayer/Focus Features)
„Because it’s fun, Jen“ war Tarantinos Antwort auf die Frage einer Reporterin, weshalb seine Filme so gewalttätig seien. Bei Licorice Pizza könnte man sich eher fragen, warum man einen solchen nostalgischen Unterhaltungsfilm überhaupt drehen sollte. Die Geschichte erscheint schon hundertmal erzählt. Eine klassische Boy-Meets-Girl-Story. Doch die Antwort liefert der Film ganz alleine: Because it is so much damn fun. Gary Valentine (alleine der Name!) trifft Alana Kane. Er ist Kinderschauspieler, der seit seiner einsetzenden Pubertät merkt, dass ihm sein süßes Gesicht bald flöten geht und seine Tage als Kinderstar gezählt sind. Sie ist die 10 Jahre ältere und erwachsene Schulfotografin, in die er sich unsterblich verliebt, aber scheinbar keine Chance haben sollte, je für sich zu gewinnen. Paul Thomas Anderson erzählt diese Liebesgeschichte in episodenhaften Abenteuern, die die beiden im sonnendurchfluteten Los Angeles der 70er-Jahre widerfahren. Und in jedem absurden Abenteuer fühlt man diese grenzenlose Freiheit, mit der man nur durch die Welt geht, wenn man sich unbesiegbar und verliebt fühlt. Es ist eine herrlich naive Brille, durch die wir blicken dürfen. Für Gary und Alana werden selbst politische Ereignisse der Zeit, wie das drohende Ende der Welt und Öl-Embargos zu einer von zahlreichen Möglichkeiten, das Leben bei den Hörnern zu packen. Licorice Pizza ist eine nostalgische Atempause von der Realität. Ein filmischer Zaubertrick, der alle Zuschauer*innen im Kino wieder in pubertierende Romantiker verwandelt. Es ist der kitschige Traum von Amerika, den man für einen Augenblick wieder glauben möchte.

6. C’mon C’mon (Mike Mills, A24)
Dieser Film gleicht einer existenzialistischen Sinnesreise in Schwarzweiß. Joaquin Phoenix spielt einen in sich gekehrten Radiojournalisten, der durch Amerika reist, um Kinder zu allen möglichen Themen zu interviewen. Doch in seinem nuancierten Spiel merkt man schnell eine Schwere und Trauer, die ihn von anderen Menschen distanziert. Als jedoch seine Schwester ihn um Hilfe bittet und er für längere Zeit auf ihren Sohn Jesse aufpassen muss, bekommt sein routinierter Alltag eine Wendung. Er wird genauso wie wir von dem neunjährigen Jesse an die Hand genommen und sieht unsere Welt durch ganz neue Augen. Es könnte die klassische Geschichte eines gebrochenen Mannes sein, der das schöne Leben wieder für sich entdeckt. Doch Jesse ist genauso verloren mit sich und der unerklärlichen Frage seiner eigenen Existenz wie sein Onkel. So wird aus der Geschichte keine happy-go-lucky Erzählung, sondern eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Leben, das manchmal zu groß erscheint, als dass wir nicht davon erdrückt werden könnten. Die Chemie zwischen Joaquin Phoenix und Woody Norman, der Jesse mit einer umwerfenden Ernsthaftigkeit verkörpert, taucht selbst leicht pseudo-philosophischen Gesprächen in eine Gefühlswelt, mit der man nur zu gerne mitgeht. Das Spiel mit den anderen, weitestgehend von Laiendarsteller*innen verkörperten Nebenfiguren erdet die universellen Fragen, die dieser Film stellt, noch weiter und verleiht den Bildern eine vergängliche Schönheit. Mike Mills wunderbarer Kunstgriff, dann auch noch Zitate aus Essays oder Büchern in diesen Film wortwörtlich einzuschreiben, verwandelt C’mon C’mon in ein schillernd illustriertes Lexikon des Weltschmerzes. 

5. Petite Maman (Céline Sciamma, Canal+/Cine+)
Obwohl dieses Kleinod schon auf der Berlinale 2021 Premiere feierte, wurde es in Deutschland erst ein Jahr später in die Kinos gebracht. Mit nur 70min Laufzeit und einem kleinen Kammerspiel-ähnlichen Setting wurde er aber leicht übergangen. Doch dieser Film ist von einer solch starken Sehnsucht erfüllt, dass, wenn man ihn gesehen hat, nicht mehr vergessen kann. Der Film beginnt in einem realistischen Rahmen: eine kleine Familie entrümpelt das alte Haus der verstorbenen Großmutter. Doch durch einen Kniff wandelt sich der Film in eine Fantasie — die zehnjährige Tochter der Familie trifft auf eine neue Spielgefährtin im Wald und realisiert, dass dies ihre eigene Mutter als Kind ist. Durch diese Zeitreise lernt sie ihre Mutter nicht als Mutter kennen, sondern auf eine Art und Weise, die man sich sonst nur erträumen kann. Sie lernen sich auf Augenhöhe kennen. In einem einfachen Trick wie diesem schlummert die ganze Magie des Kinos. So vermag ein kleiner, intimer Film solch große Emotionen auf die Leinwand zu bannen. 

4. Triangle of Sadness (Ruben Östlund, Alamode) 
Kotze, Scheiße und Kaviar. Für eine gefühlte Ewigkeit schaut man den superreichen Gästen einer Luxusjacht dabei zu, wie sie sich übergeben und vollscheißen. Es ist der Kinomoment des Jahres. Nach jedem neuen Kotzeschwall denkt man, es muss jetzt endlich vorbei sein. Doch die Kamera bleibt erbarmungslos auf die armen Kretins gerichtet, die sich in ihrem Überfluss winden. Der Witz wird ausgereizt, bis man allen Schmuck, alle Diamanten, alle Designer-Klamotten nicht mehr sieht, sondern nur noch das Fleisch und die Körperflüssigkeiten, die alle Menschen gemein haben. Das Geniale an Ruben Östlunds Palme d’Or Gewinner ist aber, dass ihm trotz solcher satirischen Überzeichnungen eine nuancierte Gesellschaftskritik gelungen ist. Es wird nicht mit schwarz-weißer Tusche gemalt, sondern hier sind wirklich alle Figuren ihr eigener Abgrund. Egal ob Arm oder Reich. Das merkt vor allem ab dem Mittelpunkt des Filmes. Die geordnete Weltordnung bricht auf einer einsamen Insel zusammen. Doch die neue Hierarchie, welche die ehemalige Arbeiterklasse nun als Herrscher*innen etabliert, errichtet kein Utopia. Die Ausgebeuteten werden zu Ausbeutern und führen den gleichen Machtmissbrauch weiter. Die Form des Films bezieht aber nie eine moralische Position. Wir bleiben mit der starren Kameraführung in der Position einer Wissenschaftler*in, die neue Variablen und ihre Wirkung in einem Testbiotop beobachtet. Der Film nimmt alle und alles in unserer konsumgesteuerten Welt gekonnt aufs Korn, aber erhebt sich nie darüber. So verwandelt sich das anfängliche Lachen in eine zähnefletschende Grimasse, die über die Leinwand hinweg ihr Spiegelbild erkennt. 

3. Aftersun (Charlotte Wells, A24/Mubi)
Bei der Kinovorführung dieses Filmes riecht man die Sonnencreme am Strand, schmeckt das Chlor des Swimmingpools und spürt die Laufbahn von Tränen, die nie zu trocknen scheinen. Aftersun folgt einer elfjährigen Tochter auf der ersten Urlaubsreise mit ihrem Vater nach der Scheidung ihrer Eltern. Es ist irgendwann in den späten 90ern. Sie reisen in ein all-inclusive Hotel in der Türkei. Doch es könnte auch überall sonst wo auf der Welt sein. Denn die einzige Sprache, die man hört, ist die der ebenfalls britischen Touristen. Aber Zeit und Ort könnten nicht egaler sein. Es sind die kleinen Momente, die Charlotte Wells hier wie im Bernstein der kindlichen Erinnerungen gegossen hat. Jedes Detail ein einzigartiger Stein, der aus den Minen des Autobiografischen geschürft wurde und nun eine Fiktion veredelt und zum Leben erweckt. Die Handlung verliert sich zwischen müden Tagen am Pool und lauten Abenden am Buffet. Es ist viel mehr ein Gefühl, das hier entsteht, als eine Geschichte. Eine Sehnsucht, die Vergangenheit zu verstehen. Das Digi-Cam Material, welches Tochter und Vater in ihrem Urlaub einfangen, wird in fragmentarischen Momenten von der nun erwachsenen Tochter in der Zukunft geschaut. So verwandelt sich jeder Augenblick der scheinbaren Gegenwart zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Selbst spontane Schnappschüsse gewinnen an einem Gewicht, das den sonst so sonnigen Film in ein bedrückendes Andenken verwandelt. Es wird nie ausgesprochen, welches Rätsel die erwachsene Tochter in dieser Erinnerung zu entziffern versucht. Doch die emotionale Tiefe, die in jedem Bild mitschwingt, lässt viele Interpretationen gegenüber der Beziehung von Tochter und Vater zu. Charlotte Wells ist in ihrem Spielfilmdebüt ein Meisterwerk gelungen, das unser ungreifbares Verhältnis mit der eigenen Vergangenheit erlebbar macht. Aftersun wirkt nach wie ein leichter Sonnenbrand an der Stelle am Rücken, wo man vergessen hat, Sonnencreme aufzutragen.  

2. The Worst Person in the World (Joachim Trier, MK Productions)
Alle Figuren in diesem Film fühlen sich kurzfristig wie der schlimmste Mensch der Welt, aber trotzdem liebt man sie alle. Joachim Trier spinnt ein Beziehungsdrama in verschiedenen Konstellationen mit Julie, unglaublich gespielt von Renate Reinsve, als Mittelpunkt. Sie ist eine lebenshungrige Frau ende zwanzig, die sich von Hobby zu Job und zurück hangelt. Der Film folgt ihr durch alle Höhen und Tiefen, die sie während zwei romantischen Beziehungen erlebt. Beide Männer lernt man genauso tief kennen und lieben wie sie. Und trotzdem versteht man ihre wachsende Unglücklichkeit, die sie immer wieder einholt, egal wie sehr ihr Partner für sie kämpft. In dem letzten Teil seiner Oslo-Trilogie macht Trier somit die Zeit als ewigen Gegenspieler der Liebe fest. Egal wie perfekt die andere Person anfangs für Julie erscheint, beide treffen sie einfach nicht zum richtigen Zeitpunkt. Und sobald Julie sich auf eine andere Zeitebene bewegt, ist sie für ihren Partner nicht mehr zu greifen, so als wäre sie nicht mehr da. Jede Trennung wird eine herzzerreißende Liebeserklärung an die Liebe selbst und ihre ganz eigene bittersüße Tragik. Es ist die Unzeitlichkeit der Dinge, die Julie im Weg steht, aber trotzdem immer weitertreibt. Trier fängt dieses Gefühl mit einem spielerischen Ideenreichtum ein, der selbst den schwersten Momenten eine magische Leichtigkeit verleiht. Ganz so, als würde man sich im Trennungsprozess neu verlieben. Er hält die Zeit an und lässt Julie durch ein eingefrorenes Oslo rennen, er lässt ihre Haut in Sekunden magisch altern, er jagt uns im Zeitraffer durch ganze Stammbäume und bleibt trotz all dieser Ausgefallenheiten immer ganz nah an Julie dran. So nahe, dass wir uns in ihr wiedererkennen, egal ob ihre Entscheidungen sie gerade zum schlimmsten Menschen der Welt macht oder nicht.

1. Everything Everywhere All at Once (Daniel Kwan & Daniel Scheinert, A24)
Hotdog-Würste als Finger, existenzialistische Steine, ein Waschbär als Chefkoch… Die Daniels haben in diesem Film eine absurde Welt geschaffen, in der wirklich alles möglich ist und trotzdem nichts willkürlich. Im Herzen der Geschichte ist es ein Familiendrama, deren vielseitigen Dynamiken aber durch eine endlose Fülle an Genre-Kreuzungen ergründet wird. Zuerst einmal durch eine ordentliche Prise Sci-Fi, da die Familie in Frage der Auslöser für einen Krieg zwischen allen parallel existierenden Universen ist. So gibt es endlose Variationen der gleichen Familie und ihre scheinbar unersetzbaren Probleme. Egal ob in der Form eines Kung-Fu-Martial-Arts-Filmes, oder in der Ausarbeitung der Hong-Kong-New-Wave, oder als Animationsfilm — die grundlegenden Differenzen der Familie bleiben die Gleichen. In einer fast manischen Schnelligkeit wird man so mit immer wechselnden Szenerien, Kostüme, Charakteren und ganzen Welten konfrontiert. Diese Flicker-artige Montage ist genauso hypnotisierend wie zermürbend. Doch genau darin liegt ihre Intention. Wir erleben den Widerspruch unserer modernen Existenz. In einer Welt, in der wir alles sein können, wissen wir nicht, wie wir gemeinsam miteinander sein können. Die Erkenntnis, dass nichts Sinn ergibt, sollte uns eigentlich befreien, doch die endlosen Möglichkeiten, die sich vor uns auftun, bleiben sinnbefreit ohne dem Gefühl der Verbundenheit und Akzeptanz. Die Verbildlichung der endlosen Möglichkeiten bietet den Daniels eine geniale Grundlage Abertausende ihrer Ideen in einen Film zu pressen, sodass man jeden Moment glaubt, man drohe den Überblick zu verlieren. Diesen Überfluss an Ideen immer wieder stringent zu einem emotionalen Kern zurückzuführen, hält den überquellenden Rahmen jedoch genial zusammen. Everything Everywhere All at Once ist ein maximalistisches Meisterwerk, das eine emotional zugängliche Bildsprache für unsere entrückte Gegenwart entworfen hat. Vor allem das geniale Zwischenspiel von VFX-Technik und Geschichte zeigt einen neuen Weg des Erzählens auf und macht Hoffnung auf eine sich neuerfindende Kinolandschaft. 

Artwork von Hoyul Jeon, 2021

Es ist acht 1/2 zu Nacht. Herr W sitzt mit Herrn M in der Paris Bar, Westberlin. Sie unterhalten sich angestrengt und doch mit Witz.

Herr M
Vor dem Schlafengehen noch einen Kaffee, damit ich schneller träume. Wir sind die Generation, die vom Internet überlaufen wurde. Jetzt stehen wir da mit all den Möglichkeiten und wissen nicht, wohin. Wir wissen nur: Eine Eule heckt keinen Blaufuß. Jede Nacht kommt die Eule heraus und betrachtet den Mond. Der Mond geht auf, der Mond geht unter. Jede Nacht ereignet sich dieses wiederkehrende Schauspiel am Himmel, das immer auch einmalig ist. Wie der Theaterabend oder, oder nicht?

Herr W
Reden wir zu Anfang von etwas anderem, reden wir von alten Zweifeln, die in Vergessenheit geraten sind oder in Entscheidungen verschwanden, denn der Film will dem Theater immer noch ans Leben oder zumindest an die Wäsche. Und das Theater lässt das auch noch zu, sieht nur zu und beharrt des Beharrens halber auf seine Absolutheit. Das Theater ist so etwas, dass durch die Corona-Pandemie eine Chance bekommen hat wieder aufzuerstehen (und sich dadurch endlich vom Zwang, dem Film gerecht werden zu müssen, befreien könnte). Und warum nicht diese Chance ergreifen, sich endlich vom Film zu lösen und die Kamera für seine eigenen Zwecke zu nutzen?

Herr M
Während sich der Film in der Postproduktion entscheidet, entscheidet sich das Theater bereits im Moment des Spielens!

Herr W
Das ist ja fast schon eine Plattitüde. Das kannst du das nächste Mal weglassen. Früher konnte man alles, was man sah, auch anfassen und damit für sein individuelles Verständnis begreifbar machen, außer Gott. Heute gibt es die analoge Welt, Gott und die digitale Welt, also auch den Live_Stream. Wir müssen heute die digitale Welt in unser Verständnis von Realität mit einbeziehen und mitdenken, denn die digitale Welt und ihr BEINAH, schier unendlicher Raum steht noch in den Kinderschuhen.

Herr M
Du meinst wohl: steckt noch in den Kinderschuhen.

Herr W
Jacke wie Hose, so egal ist das. Und damit habe ich als Zuschauender doch das Problem, wie ich einer Live_Stream Aufführung des Theaters gegenüber trete. Natürlich nicht mit der Erwartungshaltung, mit der ich mit einer Johan-Simons-Inszenierung im Schauspielhaus Bochum in ein Verhältnis trete. Es ist etwas anderes und das muss ich als Betrachter akzeptieren, es ist etwas Neues und ich muss es auch als solches behandeln, da macht der Vergleich mit dem bereits dagewesenen, akzeptierten Alten keinen Sinn mehr.

Herr M
Die Katze lässt das Mausen nicht. Ja, willst du denn eine Revolution starten? Mein Amico, ich muss dich bremsen. Wenn du vom Live_Stream im Theater sprichst, dann meinst du damit nicht den notgedrungenen Mitschnitt einer Inszenierung für ein Publikum, das zu Hause im Lockdown sitzt und wartet und wartet, sondern vielmehr die Inszenierung, die extra für einen Stream konzipiert wurde. Verstehen wir uns da richtig?

Herr W
Bingo, voll auf die 12. Als Beispiel möchte ich die Inszenierung Der Zauberberg nach Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater in Berlin anführen. Ein Theaterabend, der nicht als Konserve, sondern als einmaliges Ereignis im Live_Stream seinen Ausdruck findet. Man muss doch das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Das alles, was im Live_Stream Theater gerade seinen Ausdruck findet und für uns alte Theaterhasen speziell erscheint, ist doch im Film schon längst allgemein. Halt, nein, der Film stoppt, aber der Live_Stream läuft einfach weiter. Die Welt des Zauberbergs zu verlassen, da ich ein menschliches Rühren verspüre oder noch einen Schnaps brauche, um überhaupt irgendwas zu verstehen, das geht jetzt nicht. Die Gegenwart ist sozusagen die Zeit als bewegtes Bild der Ewigkeit auf meinem Bildschirm vor mir. Die Ewigkeit wird im Theater immer als ein zeitloses Jetzt bestimmt. Das ist doch das Schöne am Theater, dass alles Jetzt, im Moment stattfindet. Ein Mann nimmt einen Schluck Kaffee zu sich, während ein anderer an ihm vorübergeht und mehr noch, noch mehr, eine Handlung überlagert die nächste, zerstört sie, schafft platzt für Neues und alles ist in Bewegung, ALLES.

Herr W nimmt einen Schluck Kaffee zu sich. Er räuspert sich. Ein Fremder, nein, ein Gast geht am Tisch vorbei Richtung Osten.

Herr M
Das ist doch alles blah hub blah. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Vor 20 Jahren mein Lieber, das ist 20 Jahre her, als Katie Mitchell das auch schon begriffen hatte. Ein Hoch auf das Bild, ja. Aber Sebastian Hartmanns Zauberberg profiliert nicht nur durch besondere Ausformulierung von irgendeiner Gegenwart, sondern durch eine spezielle Kommunikation. Zum einen ist hier die Kommunikation zwischen den Akteuren und Akteurinnen interessant, die durch den Text in keinen direkten Dialog untereinander treten, sondern erst durch eine Zusammensetzung der einzelnen fragmentarischen Monologfetzen eine dialogähnliche Form kreieren. Das ist so, als würde man in eine Leere hineinsprechen und hoffen, dass wenigstens das eigene Echo antwortet. Dann aber gibt es die Kommunikation zwischen Akteuren und Akteurinnen und den Zuschauenden über den Live_Stream, die allerdings unidirektional vom Sender in Richtung des Empfängers ist. Hier hat man statt der Leere des Zuschauerraums nur ein Medium vor sich, dass alles Gesagte aufsaugt und man kann nur hoffen, dass es irgendwo anders gehört wird. Oder spricht man zu sich selbst? Wie auch immer. Der Zuschauerraum ist leer, alle sitzen vor ihren Bildschirmen und glotzen. Es ist alles ganz genau kalkuliert. Das, was der Film schon lange nutzt, findet nun im Live_Stream Theater Abend anklang. Die Akteure und Akteurinnen spielen für die Kamera, die in der Rolle des zwischenzeitlichen Zuschauers agiert.

Herr W
Ja genau, der ganze Apparat wirkt jetzt als EIN gleichrangiges Ensemble: Regie, Bühne, Videoanimation, Live_Stream Bildregie, szenisches Video, Kostüme, Licht, Live_Stream Kamera, Head of Stream, Ton, Sendeton, Musik, Dramaturgie und Schauspiel. Manuel Harder stemmt einen Monolog. Die Kamera kommt aus der Totale, geht in die Nahe, wir sehen jetzt jede Pore, den Atem, sehen ihn leiden, sehen was er denkt, fühlt. Die Stimme erklingt ganz klar durch die Mikroports hindurch, auch der Sound stimmt und kommt perfekt abgestimmt durch zu uns, das Licht ist wie auf ihn zugeschnitten, maßgeschneidert ist auch die Traumsequenz auf Video, die ihm Rückendeckung gibt. Alles spielt im Soloflug und kreiert durch die Zusammensetzung das Gesamtkunstwerk der Aufführung, wie im Jazz. Ein perfekter Moment, der sich den Weg über die Kamera bis in das Wohnzimmer der Zuschauenden bahnt. Lange Rede, kurzer Sinn: Man ist das gut.

Herr M
Na ja, Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Aber das ist so gut, es ist SOO gut. Die technischen Möglichkeiten des Films für das Theater nutzen – für ein Neues Theater, ein Theater für alle, ein Theater des Live_Streams. Wie dem auch sei, man wird darauf zurückkommen. Denn man fängt gerade erst an über ein Neues Theater, ein Theater, das den Live_Stream akzeptiert und als Chance für eine Erneuerung anerkennt, Unsinn zu verzapfen. Ich mache den Anfang. Es ist mir eine Ehre.

Die Herren bestellen noch zwei Konyagi, trinken diese in einem Zug und verabschieden sich dann mit der Floskel „Wir bleiben in Touch“ voneinander.

Video und Stimme: Marlon Bienert

Marlon Bienert ist Schauspieler und Videokünstler. Er studierte Architektur an der TU München und beginnt demnächst sein Schauspielstudium an der Otto-Falckenberg-Schule.

Liebe Francesca,

die moderne Welt, ich verstehe sie nicht mehr. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass es nicht auf alte und nicht auf neue Form ankommt, sondern darauf, dass man tätig ist, ohne an irgendwelche Formen zu denken. Man ist tätig, weil sich im Inneren etwas rührt, etwas, dass frei aus der Seele hervorströmen möchte. Ohne Konsens, ein neues System, dass jeder und jedem erlaubt, sich zu verselbstständigen. Und so hast du mich mit deinen Fotografien dazu bewegt, mich selbst in Szene zu setzen, mich auszuprobieren in der Selbstinszenierung.

Die Fähigkeit die Wirklichkeit zu sehen, verlangt die Schulung des Auges. Erst wenn ich richtig sehen kann, kann ich das Gesehene in angemessener Art und Weise zum Vorschein bringen; ich kann es zeigen. Heißt das, dass ich zuerst erkennen muss, wer ich bin, um mich selbst zu zeigen, um mich selbst in Szene zu setzen? Jetzt stehe ich vor diesem Bild, einer Fotografie die eine Schildkröte zeigt, die durch einen leeren und morbiden Raum kriecht, beobachtet von einem Mädchen, dessen Gesicht verdeckt ist, das aber trotzdem hinsieht. Dieses Mädchen bist du. Du bist in diesem Moment der Bewegung gefangen, eingefangen und dem Betrachter ausgeliefert. Du hast alles ganz bewusst inszeniert, im existenziellen Interesse deiner selbst, den Eindruck, den du dabei abgibst, nach Möglichkeit zu kontrollieren. Es ist deine Performance, die mit der Kamera in der Funktion des zwischenzeitlichen Publikums eingefangen wird. So ist das Bild die einzig richtige Art und Weise, dich auszudrücken, um deinen Formen des Denkens wie die Inspiration, die Intuition und vor allem die Imagination [Imago – lat. Bild] in einem Werk zum Vorschein zu bringen. Das, was du siehst, zeigst du mir durch deine Fotografie. Du bist die Künstlerin katexochen. Du warst die Außenseiterin im künstlerischen Leben deiner Zeit. Du warst fähig zu leiden, hast dich verschlissen. Deine Fotografien sind Inszenierungen, die ein Bündnis mit Fantasie und Wirklichkeit eingehen, die die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen – deine Fähigkeit, in der Realität zu erscheinen und aus ihr herauszutreten, wie ein Geist – und mich als Betrachtenden immer mit Fragen zurückzulassen. Ein Gebilde nach deinen Regeln gebaut, schafft eine traumähnliche Atmosphäre, zart, voller Melancholie, wie aus dem Surrealismus entschlüpft. Diese erdachte Welt gleicht einem Spiel zwischen Irdischem und Übersinnlichem. Das Spiel als etwas freies, das den zur Freiheit verurteilten Mensch zum Selbstentwurf befähigt und zum ersten Mal zeigt, dass der Mensch das sein kann, was dieser als sein Selbst, als die ihm eigene Person kreiert.

Du bist aus dem Fenster gesprungen und nach dir die Sintflut. Eine Flut an Bildern aus der virtuellen Welt überschwemmen mich und erschweren mir das klare Sehen. Ich frage mich, ob du dir damals schon ausgerechnet hast, welche Tragweite und welchen Einfluss dein Werk auf alles Kommende und jetzt Vorhandene haben wird. Ein Bild kann heute jede oder jeder produzieren und verbreiten. Jede oder jeder kann sich selbst in Szene setzen, wenn diese oder dieser das Spiel mit dem Bildern beherrscht und somit bekannt, erkannt und prominent werden. Es ist die kindliche Sehnsucht nach Erfolg und Ruhm, doch bei dir war es der brennende Wunsch, als Reformerin der Fotografie wirksam zu werden. So waren doch deine Werke die erste Geste, die zu dieser Entwicklung überhaupt beitrugen und zu einer weiteren führten. Heute ist es selbstverständlich, den Mensch als Begriff der Kunst in die Gesellschaft hinüberzuführen. Die Kunst ist nun dahin gekommen, dass der Mensch selbst das Kunstwerk ist, wobei die Qualität des Kunstwerks fraglich bleibt.

Heute ist das Zeigen dem Sehen vorrangig. Es wird alles gezeigt, was vor die Linse kommt. Man schießt auf den Mensch, auf den sich darstellenden Mensch, auf die ganze Schönheit der Erde, auf die Straßen, die Blumen, die Gebäude. Die Hauptsache ist, dass man schießt. Doch im Zentrum steht nicht das vom fotografierenden Subjekt Gesehene, sondern, dass das Gezeigte von Anderen gesehen wird. Nicht

der Inhalt, sondern der Ausdruck soll überzeugen. Vor allem das Hervorheben der eigenen Person und ihr ewiger Geltungsdrang sollen künstlerisch inszeniert sein, um ein Maximum an Aufmerksamkeit zu generieren. #how_to_become_famous_on_instagram? Dieser Drang des Zeigens und die gewollte Inszenierung überrumpeln oftmals die Betrachterin oder den Betrachter und lassen diese oder diesen verständnislos fragend zurück. Dann stellt sich den Betrachtenden nicht die Frage, wie der Inhalt zu deuten, sondern wo der Inhalt überhaupt abgeblieben sei. Wenn es der Fotografin oder dem Fotografen nicht gelingt das Gesehene in der Selbstinszenierung zum Ausdruck zu bringen, dann erscheint das Aussehen der Gesten mechanisch, als eine sinnlose Pantomime und das Gezeigte ist nur noch stumpfsinnig und leer. Folglich spiegelt sich in der Fotografie eine Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst und die Selbstinszenierung dient lediglich der Verbreitung einer Lüge über die eigene Person, die einer Täuschung aller gleicht. Der moderne Mensch missbraucht die Selbstinszenierung in der Fotografie für eine Hervorhebung der eigenen Person, während du diese zum Zeigen des von dir Gesehenen gebrauchtest. Der Unterschied ist, dass du in deinen Fotografien immer du selbst bist. Zwar spielst du eine Rolle, sprichst durch eine Maske, aber du bleibst immer konsequent bei der Wahrheit und die oder der Zuschauende sieht immer dich. Deine Fotografien haben das etwas, das Geheimnis, welches unerklärbar ist, jedoch da ist, spürbar ist, unterbewusst wahrgenommen werden kann, schlussendlich das Erhabene, was die Fotografien erst zu Kunstwerken erhebt. In einem Wort zeigst du das Gesehene wahrhaftig. Ich möchte einmal sehen können wie du. Ach, wenn ich nur einmal so sehen könnte wie du, Francesca.

Ich bin ein Fotograf, der schreibt, jedoch noch nie eine Kamera in der Hand hatte und Legastheniker ist.

Erregt grüßend

Nolram Beinhart

Regie: Marlon Bienert
Performance: Marie Elise Hufnagel

Marlon Bienert ist Videokünstler und studiert Architektur an der TU München.