To have a philosophy is to know how to love and to know where to put it. You can’t put it everywhere, you walk around and you got to to be a minister or a priest to say: yes my son or yes my daughter, bless you. But people don’t live that way, they live with anger and hostility and problems and lack of money and tremendous dissapointments in their life. So what they need is a philosophy, what everybody needs is a philosophy, is a way to say: where and how can I love and be in love so that I can live, so that I can live with some degree of peace. And I guess every picture we have ever done has been in a way a try to find some kind of philosophy for the characters in the film.

Wer in Wiesbaden aufwächst, weiß, dass der Kurpark, ein im Stil des englischen Landschaftsgartens angelegtes Symbol des Bourgeoisen, besetzt ist von grünen Halsbandsittichen, deren eigentliche Habitate in Afrika und Asien zu finden sind. Die Papageie sind vermutlich aus einem Tierpark entwischt und haben sich in den Nischen des vom Menschen umgewältzten öffentlichen Raums eingenistet. Mitten im Zentrum der Landeshauptstadt, in der unmittelbaren Umgebung der Spielstätte, in welcher bereits Dostojewski seinen Lohn verzockte, singen sie ihre nomadischen Lieder der Subversion. Dabei geben sie uns, ob gewollt oder nicht, ein Vorbild für den richtigen Umgang mit Genre: es gilt, den Fremdkörper in die Konvention zu schleusen, und gleichzeitig das neuartige Gefüge so stimmig erscheinen zu lassen wie die gewohnte Wirklichkeit. Eben hier lässt sich die politische Sprengkraft von Melvilles Entscheidung, die Männer in seinen Gangster-Filmen ihre ikonischen Hüte, welche in Paris bereits aus der Mode gefallen waren, weitertragen zu lassen. Jede einzelne der Kopfbedeckungen scheint zu flüstert: „Das was ist, könnte auch anders sein.“

München ist ja auch wie Leverkusen: H&M und alles. Das, was München ausmacht, als Bild ausmacht, das kann man auf der Ansichtskarte kaufen oder ein Selfie machen. Also die Kirche hier, das Museum, die Isar, der Englische Garten – und das nochmal in die Tourismus-Werbeschleife zu schicken ist langweilig. Mich interessiert eher: kann man eine Liebesgeschichte in der Umkleidekabine von H&M erzählen oder in der Eisdiele San Marco. Oder kann in der Raucherecke eines Schulhofs was beginnen? Das interessiert mich mehr. Ich finde alle Liebe und alle Leidenschaft und alle Abenteuer müssen der Welt abgetrotzt werden. Eine Liebesgeschichte unter der Frauenkirche hier oder am Marienplatz im Bayern München Fanshop – das ist eigentlich schon wieder interessant – Bayern München Fanshop könnte man sich schon wieder vorstellen…

Das München muss in dem Verhalten der Menschen, in den Blicken, in der Kleidung, im Reichtum, in den Autos – das ist doch München. Die Münchner gehen doch ganz anders als Berliner. Hier ist eine Bürgerklasse, die hat Geld, das es kracht seit zwei, drei Generationen. Die sind besser erzogen, die haben Immobilienpreise, wo jede Form von Jugendkultur im Keim erstickt wird, gleichzeitig haben sie aber auch ein Selbstbewusstsein hier und auch eine Gelassenheit. Alle diese Dinge müssen in einem Film sein, dass die Polizisten hier die Mieten nicht zahlen können, sondern zwei Stunden fahren müssen, um in die Stadt zu kommen. Deswegen spielt das Auto auch so eine große Rolle.

* Christian Petzold

Angela Schanelec „schöne gelbe Farbe“ (1991):

https://dffb-archiv.de/dffb/schoene-gelbe-farbe

Auszüge aus Joseph Vogls „Schöne gelbe Farbe: Godard mit Deleuze“:

Die Szene ist beiläufig, fast unscheinbar. Sie ist weniger als eine Szene und etwas mehr als ein Augenblick. Sie ist ein Vorübergehen, ein Zögern, ein Weitergehen, eine ziellose, kurz angehaltene Bewegung. Und sie ist überdeterminiert, sie ist ein Aufblitzen, in dem selbst etwas aufblitzt – ein flüchtiger Blick und ein unvollständiger Satz. So jedenfalls wird sie gespielt, an der sonnenbeschienenen Außenwand von Malapartes Villa auf Capri und in Godards „Le Mepris“ (Die Verachtung): Fritz Lang schlendert herbei, zögert, deutet auf Francesca, die im gelben Bademantel am abblätternden Rot der Mauer lehnt, und sagt: »Schöne gelbe Farbe«, während er weitergeht. […]

Die Farben ergeben die Ordnung des Films. Sie begleiten die Figuren und wuchern über sie hinaus. Sie übergießen das Bild, ziehen sich in Formen und formlose Formen zusammen. Sie sind Anfangs und Endpunkte oder selbst Bewegungen. Sie stehen nebeneinander, ergänzen sich, teilen und verteilen sich, bilden Oppositionen. Sie können erzählt werden und Bedeutungen in sich aufnehmen, Ja und Nein, Trauer und Glück, Verfolgung und Rettung. Sie können erzählt werden, sind aber selbst keine Erzählung, sie können Bedeutungen annehmen, sind selbst aber insignifikant. Sie bilden die Ordnung des Films, diese Ordnung aber ist nicht die einer Sprache. […]

[N]icht das scharfe Messer, sondern das Schneiden oder Schneidende, nicht ein gleißendes Licht sondern das Gleißen oder Gleißende, nicht der gelbe Stoff, sondern das Gelb-Sein oder Gelb-Seiende, oder – wie Deleuze mit einem Paradox von Lewis Carroll sagt: ein Grinsen ohne Katze.

CHRISTIAN SCHWOCHOW: Kannst du trotzdem nochmal zum Schluss – auch wenn du es in der Vergangenheit schon mal gesagt hast – noch einmal formulieren, was du dem deutschen Kino wünschst?

DOMINIK GRAF: Ich würde ihm wünschen, dass eine Reihe kommt, eine Generation oder – also es muss jetzt nicht unbedingt eine junge Generation sein, aber vielleicht schaffen es nur die – irgendeine Welle von Filmen, die sich um nichts mehr scheren, die wirklich Publikum, Einspielquoten – alles scheißegal: „Wir machen das so“.
Die müssen natürlich relativ billig anfangen, weil sie nicht so viel Geld dafür kriegen, wenn sie da loslegen. Aber die müssen ebenso trivial, brutal sein wie auch elitär, gewisserweise, die müssen wirklich das machen, was sie wirklich wollen und niemanden fragen, ob sie das machen dürfen.
Das wär eigentlich wie so eine Frischspritzkur, das was ich dem deutschen Film am meisten wünschen würde. Auch wenn das dann auch wieder in Vorgremien der Hauptgremien irgendwie aus dem Fenster fliegt – von mir aus – aber es muss Filme geben, die einfach anders sind, als die Filme, die im Moment gemacht werden in ihrer Breite. Von den einzelnen herausragenden Beispielen ganz abgesehen. Die gibt es natürlich immer.

Close Up Podcast, Staffel 2, Folge 1: Dominik Graf, 10.10.2018.

Rule #1: There are no rules. There are as many ways to make a film as there are potential filmmakers. It’s an open form. Anyway, I would personally never presume to tell anyone else what to do or how to do anything. To me that’s like telling someone else what their religious beliefs should be. Fuck that. That’s against my personal philosophy —more of a code than a set of “rules.” Therefore, disregard the “rules” you are presently reading, and instead consider them to be merely notes to myself. One should make one’s own “notes” because there is no one way to do anything. If anyone tells you there is only one way, their way, get as far away from them as possible, both physically and philosophically.

Rule #2: Don’t let the fuckers get ya. They can either help you, or not help you, but they can’t stop you. People who finance films, distribute films, promote films and exhibit films are not filmmakers. They are not interested in letting filmmakers define and dictate the way they do their business, so filmmakers should have no interest in allowing them to dictate the way a film is made. Carry a gun if necessary.

Also, avoid sycophants at all costs. There are always people around who only want to be involved in filmmaking to get rich, get famous, or get laid. Generally, they know as much about filmmaking as George W. Bush knows about hand-to-hand combat.

Rule #3: The production is there to serve the film. The film is not there to serve the production. Unfortunately, in the world of filmmaking this is almost universally backwards. The film is not being made to serve the budget, the schedule, or the resumes of those involved. Filmmakers who don’t understand this should be hung from their ankles and asked why the sky appears to be upside down.

Rule #4: Filmmaking is a collaborative process. You get the chance to work with others whose minds and ideas may be stronger than your own. Make sure they remain focused on their own function and not someone else’s job, or you’ll have a big mess. But treat all collaborators as equals and with respect. A production assistant who is holding back traffic so the crew can get a shot is no less important than the actors in the scene, the director of photography, the production designer or the director. Hierarchy is for those whose egos are inflated or out of control, or for people in the military. Those with whom you choose to collaborate, if you make good choices, can elevate the quality and content of your film to a much higher plane than any one mind could imagine on its own. If you don’t want to work with other people, go paint a painting or write a book. (And if you want to be a fucking dictator, I guess these days you just have to go into politics…).

Rule #5: Nothing is original. Steal from anywhere that resonates with inspiration or fuels your imagination. Devour old films, new films, music, books, paintings, photographs, poems, dreams, random conversations, architecture, bridges, street signs, trees, clouds, bodies of water, light and shadows. Select only things to steal from that speak directly to your soul. If you do this, your work (and theft) will be authentic. Authenticity is invaluable; originality is nonexistent. And don’t bother concealing your thievery—celebrate it if you feel like it. In any case, always remember what Jean-Luc Godard said: “It’s not where you take things from—it’s where you take them to.”

IRONIE

Standbild aus Scorseses King of Comedy (1982)

PUBLIKUM: Sehen Sie in der Kunst und in künstlerischen Ausdrucksformen ein Potential zu einer Veränderung [unserer] Situation im positiven Sinne?

JOSEPH VOGL: Also wenn ich Ja sage, dann hängt das natürlich mit einem bestimmten Optimismus – man könnte sagen: Berufsoptimismus – zusammen, der darin besteht, dass bestimmte Formen von Analysen nicht konsequenzlos bleiben, das heißt also, dass Analysen immer eine offene Brücke in mögliche Praxis bedeutet. Und vor diesem Hintergrund würde ich sagen: Ja. Kunst im weitesten Sinne, ich habe im wesentlichen Literatur im Kopf, kann dazu beitragen und das Musilsche Argument lautet ganz einfach, dass es zwei völlig unterschiedliche Formen der Ordnungen mentaler Welten gibt. Auf der einen Seite operiert man auf theoretischen Gebiet mit Allgemeinbegriffen, man operiert mit Gesetzmäßigkeiten, alles was haltbare Theorien benötigen: Gesetzmäßigkeiten, Begriffe, die in irgendeiner Weise konstant sind, einen Großteil von Phänomenen unter sich subsumieren können.

Das wäre die eine Seite – und [dann gibt es noch] die andere Seite, die Musil für die Literatur stark macht. Er sagt, es gibt eine Intelligenz, die sich nicht an Gesetzmäßigkeiten hält, die sich nicht an Allgemeinbegriffe hält, sondern die Singularitäten untersucht, wo Gemeinbegriffe scheitern, wo Gesetzmäßigkeiten nicht mehr erkennbar sind. Und genau diese Situation aufzusuchen, in denen man vom Hundertsten ins Tausendste gerät, in denen der Weg der Analyse nie abschließbar ist, in denen Tatsachen, die für gegeben scheinen, unübersichtlich werden, das ist das Feld der Kunst, der Literatur. Und das ist das rasante Theorieangebot von Musil.


Man könnte es vielleicht auch nochmal anders formulieren, auch das kann man von Musil lernen: man kann nach Geisteshaltungen fragen. Wie kann man sich selbst zu bestimmten Geisteshaltungen fügen? Und da würde ich sagen, gibt es zwei verschiedene Zugangsweisen. Die eine Zugangsweise – und das ist interessant, diese Zugangsweisen definieren sich über ein Verhältnis von Problem und Lösung oder Frage und Antwort, wie verhält man sich dazu – die Pessimisten, eine bestimmte Geisteshaltung, die beschäftigen sich mit Problemen, die sich nicht lösen können. Es gibt zweitens die Optimisten – dazu gehören sehr viele Technikwissenschaftler, Naturwissenschaftler – die beschäftigen sich mit den Problemen, die sie mit höchster Wahrscheinlichkeit lösen können. Und es gibt drittens – und dazu würde ich mich vielleicht in irgendeiner Weise zählen – Ironiker, man könnte es Ironiker nennen, die interessieren sich nicht für die Lösungen von Problemen, sondern sie interessieren sich dafür, für gegebene Antworten und für gegebene Lösungen die entsprechenden Fragen und Probleme zu erfinden. Das wäre eine weitere Geisteshaltung. Ich glaube auch Musil ist ungefähr in diese Richtung gegangen.


NAHAUFNAHME

Standbild aus Cronenbergs Videodrome (1983)

PUBLIKUM: Wenn man guckt, welche Organisationsformen gab es in der Vergangenheit, Gewerkschaften, Genossenschaften, was auch immer, Kollektive in jeglicher Form, aber irgendwie das Gefühl hat, dass sie mit Prinzipien und Methoden arbeiten, die einem anderen Markt entsprangen, und mal aktualisiert werden [müssen], nicht mehr zeitgenössisch sind in dem Sinne. Und deswegen ist es einfach so die Frage, ob ein soziales Netzwerk auch zum Teil an diese Stelle getreten ist als Dialogform, als Zusammenschluss zwischen den einzelnen KämpferInnen auf dem Arbeitsmarkt, überhaupt erst das zu kreieren, wovon man dann loslaufen kann.

JOSEPH VOGL: Ich hab jetzt dafür, abgesehen von den Vorschlägen, die sie alle kennen – ich muss jetzt keine offenen Türen einrennen – das heißt also, es gibt also althergebrachte Lösungen, die, nur weil sie althergebracht sind, nicht obsolet bleiben. Also wie Genossenschaftswesen, etc. Es gibt andere Formen der solidarischen Organisation, die man eben auf dem ganzen Gebiet – denken Sie an die Zeit Herbst 2015, was man alles erlebt hat, was eben beispielsweise vor dem Hintergrund der Migrantenzahlen passiert ist an sozialer Organisation, an Ehrenamtlichen oder weiß Gott was – da haben Sie ganz elementare Beispiele, von Selbsthilfegruppen über Beratungsagenturen bis hin tatsächlich zu Leuten, die sich privat zusammentun, um tatsächlich sozial erfinderisch zu sein. Ich glaube da müsste ich nicht weiter machen.

Ich müsste erst einmal eine negative Antwort geben, weil sie mich in irgendeiner Weise beschäftigt und bedrückt oder so was. Ich glaube es war Frederic Jameson, also dieser linke Literaturwissenschaftler aus den
Vereinigten Staaten, der einmal gesagt hat, man kann sich heute eigentlich das Ende der Welt eher vorstellen, als das Ende des Kapitalismus. Und ich glaube das zielt auf eine ziemlich schmerzhafte Seite in unseren Mentalitäten, nämlich, dass unsere politische Einbildungskraft irgendwie sklerotisch [unter Sklerose versteht man eine Verhärtung von Organen oder Gewebe durch eine Vermehrung des Bindegewebes] geworden ist. Lassen sie mich schärfer formulieren: die Ideen, die wir haben – also wenn man sich wirklich mal in den eigenen Imaginationsraum setzt und merkt, dass alle Fenster verschlossen sind, dass es irrsinnig schwer ist, Fenster aufzustoßen, zum Beispiel im Verhältnis zum 19. Jahrhundert, in dem alle möglichen Leute alle möglichen Ideen hatten – dann liegt es daran, die eine Seite haben Sie genannt, dass wir mit überkommenen, veralteten Konzepten und Imaginationen, die wir versuchen, wiederzubeatmen, also sozusagen die untoten Seiten der politischen Einbildungskraft, und auf der anderen Seite alle anderen Einbildungsformen irrsinnig schnell marktförmig sind, Warencharakter haben, also zwischen diesen beiden Extremen sind wir ein bisschen hilflos. Ich will das nicht als Antwort stehen lassen, muss es aber glaube ich so stehen lassen, weil ich befürchte, es artikuliert exakt meine eigene Hilflosigkeit dabei. Also ich denke, es ist irrsinnig schwierig oder irrsinnig kompliziert oder irrsinnig umständlich aus der Marktförmigkeit der eigenen Einbildungskraft irgendwie herauszukommen und deswegen nimmt man im Zweifelsfall bei veralteten Warenhütern noch einmal Zuflucht.

PUBLIKUM: Haben Sie vielleicht auch eine Idee wie wir die Einbildungskraft fördern können?

JOSEPH VOGL: Es gibt in der Pädagogik der Einbildungskraft, würde ich sagen, eine ganz, ganz wesentliche Maßnahme, die dazu beiträgt oder dazu hilft und das heißt: genau hinsehen. Also bei Gegenständen, bei Phänomenen verweilen. Ich glaube je genauer man Gegenstände, Phänomene, welche Art es auch immer sein mag, ansieht, desto mehr fällt einem zu diesen Gegenständen ein. Der schlechteste Weg wäre auf Totalen, auf Gesamtbildern, auf Gesamtzustände Bezug zu nehmen. […] Das genau Hinsehen ist eine Arbeit, die sich nicht spezialisieren lässt, also genau hinsehen heißt nicht, als Markforscher hinsehen, als Literaturwissenschaftler hinsehen, heißt nicht, als Gewerkschafter hinsehen, sondern heißt alle möglichen intellektuellen, seelischen Kapazitäten mobilisieren, um eine Sache zu erfassen. Auch das ist eine Sache, die man bei Musil lernen kann. Man könnte es Perspektivismus nennen, ausgehend von der Unterstellung, dass eine Sache nie von einem, aus einer Perspektive, mit einem Vermögen, sei es Bewusstsein oder Emotion oder wie auch immer, erfassbar wird. Das meine ich damit: Gegenstände in den Blick zu rücken und die Perspektiven darauf zu vervielfältigen unter der Umgehung einer spezialistischen oder expertenhaften Reduktion. Und da wäre das Ästhetische natürlich mit dabei.*

Lars Dreiucker Interviews, Joseph Vogl, 1.4.2017, Deleuze. Post Scriptum, Wiederholung/ Revolution.


*Eine mögliche Querverbindung zu Leo Geislers ‚Bauanleitung für einen Jungen Film‘ (zum Download als PDF unter Identität)?

Nähe: Von der Sache selbst muss ausgegangen werden. Aus dem Besonderen/Alltäglichen/Persönlichen lassen sich Rückschlüsse auf das Allgemeine induzieren. Es ist die Aufgabe des Subjekts sich an das Objekt anzuschmiegen. Ein Film, der verkehrt herum verfährt, ist Reklame. So erklärt sich auch der Film, der seinen Zeigefinger hebt, und der Film, der bemitleidet.

Distanz: Der Einfühlungsfilm verstellt den Weg zum Konkreten. Der psychologische Ansatz entspricht den großen Narrativen des 20. Jahrhunderts, in denen jede Handlung mit einer Bedeutung besetzt ist, einem Anachronismus also. Die ironische Ambiguität, das Unerklärliche, das Suchende entsprechen unserem brüchig gewordenen Jahrhundert. Markov schreibt: Unsere unfertige Gesellschaftsordnung kann kein fertiges Geschichtsbild haben. Sie kann nur Wege weisen. Wege, die sich nicht selbst anbieten, die man suchen muss, behaftet mit dem Risiko der Umwege, ja Irrwege. Gleiches gilt für die Mikro-Geschichten der filmischen Erzählweise. Die lange Einstellung ist die Freundin der Suche.

Louis Gering verleiht die goldene Essiggurke an die wichtigsten Filme des letzten Jahres

Theoretisch stand das Kino letztes Jahr mit einem Bein im Grab. Die Türen zu den großen Leinwänden waren oftmals verschlossen und der Produktionsstau verhieß einen Action-Blockbuster nach den anderen in die Kinos zu spülen anstatt Platz für Filmkunst. Doch rückblickend war es ein Jahr mit einer unglaublichen Fülle an Kinoerlebnissen, die mir Hoffnung schenken. Deswegen beziehe ich hier Stellung zu den 10 wichtigsten Filmen des letzten Jahres. Eine salzige Empfehlung:

10. Lamb (Vladimir Jóhannsson, A24)

Diesen Film sollte man mit so wenig Vorwissen wie möglich zum ersten Mal sehen. Nur so kann sich die volkstümliche Magie in den weiten Landschaftsbildern von Island entfalten. So viel sei aber verraten: Ein Wolf im Schafspelz ist nichts gegen dieses Lamm.   

9. Malcolm and Marie (Sam Levinson, Netflix)

Während alle noch auf ihren Glitzerfingernägeln herumkauten und auf die Fortsetzung seines Serienhits Euphoria warteten, schüttelte Sam Levinson zwischendurch noch schnell ein filmisches Feuerwerk aus seinem Ärmel. John David Washington und Zendaya sind in diesem Kammerspiel zwei Naturgewalten, die aufeinanderprallen. Und man kann nicht wegsehen. In vielen Momenten erinnert diese Tour de Force an Who is Afraid of Virginia Woolf. Ähnlich wie mit Richard Burton und Elizabeth Taylor verfolgen wir hier eine Beziehungskrise, die innerhalb einer Nacht einen Marathon an Streitthemen zurücklegt. Zugegebener Weise besitzt der Film etwas zu viel Selbstbezogenheit. Manchmal weiß man nicht, ob der egomanische Filmregisseur, den Washington verkörpert, absichtlich ein überzeichnetes Arschloch ist, oder ob Sam Levinson sein eigenes Genie an die Wand malen wollte. Doch solange Zendaya und Washington all das so verdammt gut rüberbringen, kann ich nicht umher zu schreien: Ich will ein Kind von euch!

8. Lieber Thomas (Andreas Kleinert, Wild Bunch)

Eine Filmbiografie über einen anderen Filmemacher auf die Leinwand zu bringen birgt viele Gefahren. Wie vermengt man das gesamte Leben eines Illusionisten in einer eigenen Illusion? Doch dieses Biopic über den DDR-Filmemacher und Autoren Thomas Brasch geht den meisten Fettnäpfchen gekonnt aus dem Weg. Brasch war einer, der nirgendwo hineinpasste und auch nirgends hineinpassen wollte. So wird es jedenfalls erzählt. Der historische Bezug, die Sets, Kostüme und freie Schnauze der Schauspieler*innen, sind alle schön und gut. Doch was diesen Film besonders macht, sind die nahtlosen Übergänge zwischen historischer Realität und den Fantasiewelten des Protagonisten. Lieber Thomas verfällt so niemals der Nostalgie einer vergangenen Zeit, sondern zeigt ausdrucksstark, dass es immer die Vorstellungskraft von einigen wenigen Träumern und Verrückten war, die einer bestimmten Zeit Bedeutung verleiht.

7. Fabian, oder der gang vor die Hunde (Dominik Graf, DCM)

Dominik Graf verfilmt Erich Kästners Roman so verspielt und experimentierfreudig, das man sich in den ersten Minuten des Filmes an die wilden Schnittgewitter zwischen Super8-Aufnahmen, Theaterbühnen und Kamerafahrten erst mal gewöhnen muss. Doch genau so wird man hineingezogen in die Welt von Fabian, für den die Welt um sich herum wenig Sinn ergibt. Fabian flaniert durch eine ähnlich politisch aufgeladene Zeit wie der heutigen in einem Berlin, das oftmals absichtlich genauso aussieht wie 2021 anstatt 1930. Dominik Graf schafft es somit die Vergangenheit nicht nur zu dokumentieren, sondern sie als lebendiges Mahnmal zu inszenieren. Die erste Plansequenz des Filmes bleibt hier besonders im Kopf — die Kamera bewegt sich durch einen modernen Berliner U-Bahnhof an Menschen mit iPhones und Kopfhörern vorbei, die Treppe hoch, bis die ersten Passanten im historischen Kostüm an einem vorbeilaufen und man hinaus in das Berlin der 1930er tritt. Jeder Schritt, ein Spagat zwischen heute und gestern. 

6. Azor (Andreas Fontana, Mubi)

Andreas Fontanas Debütfilm ist ein stiller Thriller, der unter die Haut geht. Es ist eine reife Milieustudie über die schattenhafte Welt der internationalen Privatbankiers in Argentinien im Jahre 1980. Diese Privatbankiers sind die Strippenzieher des Kapitals. In den Luxushäusern der Reichen und Schönen sind sie der Realität aber so fern, dass die Militärdiktatur der 80er als bloßer Hintergrund jegliche Bedeutung verliert. Mit dem namenlosen Protagonisten bewegen wir uns auf der Suche nach seinem verschwundenen Kollegen in eine Abwärtsspirale des Wahnsinns. Apocalypse Now trifft auf The Godfather, nur trägt der Pate hier einen Aktenkoffer anstatt eines Revolvers. 

5. The French Dispatch (Wes Anderson, Searchlight Pictures)

Sich in einer ausverkauften Vorstellung von diesem Film umzusehen, war wie als würde man in ein Wes Anderson Museum blicken. Überall hip and quirky Charaktere. Mit The French Dispatch sind Wes Andersons farbrohe und hochstilisierte Filmwelten also endgültig zu einem Kinoerlebnis geworden. Und das zu Recht. Jedes Bild sprüht nur so mit kreativem Spielwitz über. Es ist als würde man jede Millisekunde mit einem perfekt gemalten Tableau beschossen. Doch anders wie in Grand Budapest Hotel ist das diesmal nicht ein leeres Spektakel. Hier entfaltet sich ein Geschichtenerzähler rührend in einer Ode an das Geschichtenerzählen. 

4. The Green Knight (David Lowery, A24)

In diesem Art-House Fantasy Blockbuster verbindet David Lowery die vielen Gegensätze, die seine bisherigen Filme so einzigartig machten, zu einem großen Gesamtwerk. Die ritterliche Moral, ein Held zu sein, treibt Dev Patel dazu, Abenteuer zu bestehen, die seinen Anforderungen an sich selbst immer weiter verqueren. Basierend auf einem mittelalterlichen Gedicht löst sich dieser Ritterepos von allen Erwartungen und bannt etwas Zeitloses auf die Leinwand.

3. Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (Alexandre Koberidze, DFFB)

In seiner “Bauanleitung eines Jungen Films” hat Leo Geisler für Filmdämmerung geschrieben “Es so zu sagen, wie es ist, heißt die bestehende Welt verfestigen. Dabei muss sie doch verflüssigt werden”. Und genau das tut dieser märchenhafte Film von Alexandre Koberidze. Alltägliche Szenen in einer georgischen Kleinstadt werden mit solcher Magie inszeniert, das sich die letztjährige Berlinale zu recht verzaubern hat lassen. Was man sieht, wenn wir in den Himmel schauen bleibt zwar unbeantwortet, aber durch diesen Film schaut man wie ein Kind auf unsere Welt. 

2. Annette (Leos Carax, Alamode)

Von der ersten Sekunde an bebt man im Takt eines jeden Liedes mit, das dieses Musical so spielerisch leicht inszeniert. Trotzdem fühlt man sich nie sicher, ob Leos Carax die von den Sparks-Brüdern geschriebenen Songs persifliert oder todernst nimmt. Noch nie kam kitschiger Pop den menschlichen Abgründen so nah. Und die beste Sexszene des vergangenen Jahres geht auch ganz klar an Annette — ich meine, wer kann zu Adam Driver und Mario Cottillard Nein sagen? Vor allem wenn beide während der Sexszene nackt und verschwitzt “We love each other so much” singen.

1. Titane (Julia Ducournau, Neon)

In einigen Kinovorstellungen dieses Body-Horrorfilmes soll sich schon übergeben worden sein. Kann es ein cooleres Kompliment für einen Film geben? Die körperlichen Reaktionen, die Titane jedenfallsfähig ist auszulösen, sind aber nichts im Vergleich zu der unglaublichen Emotionalität, mit der jeder Moment aufgeladen ist. Ducournau hat hier eine neue Filmsprache ins Leben gerufen, die eine so gewaltige Gefühlswelt nach außen kehrt, dass die Realität in ihrem Angesicht erschaudert. Es ist ein solch mutiger Film, dass es genauso großen Mut erfordert, sich ihm zu stellen. In meinen Augen ist es genau diese Art von Zuschauerschaft, die das Kino von morgen schaffen muss.

Hinter den Kulissen der jährlichen Verleihung der goldenen Essiggurke. Ein Programm des Deutschen Filmförderfonds. Diesjähriger Host: Sven Ritter