14.04.2021, 16:48

Liebe Ella,

Wenn ich alleine bin, überfallen mich die Worte. Ich sitze an meinem Schreibtisch, lese einen Text für die Uni oder schaue vielleicht einen Film – dann: Eine Tür wird aufgetreten, Glas zerbricht, die Maskierten stürmen herein. Es klingt aus der bodenlosen Leere meines Bewusstseins: “Ah, ich brauche noch Eier.” Die Wörter machen es sich bequem ohne, dass ich dagegen etwas tun könnte. 

Mein Selbst als solches ist ein Netz aus Sprache. Ohne Worte wäre ich nicht nur nicht Ich, sondern Nichts. Das gespenstige Etwas, das ich Ich nenne, offenbart sich nur im stillen Selbstgespräch, dem Denken. Will ich etwas schreiben, teilt es sich in A und B, in beginnt darüber zu streiten, wie beispielsweise die Szene ausgestaltet, welche Worte in die Münder der Figuren gelegt werden sollen. 

Selbst wenn mein bewusstes Selbst nicht anwesend ist, ist mein Ich in Form von Wortgebilden zugegen. So wache ich manchmal auf, weiß nicht wo/wer/was ich bin, weiß nur, dass da dieser Satz ist, unreflektiert und nüchtern: 

Ah, ich brauche noch Eier.” 



05.05.2021, 16:45

Lieber Leo,

deine Flut an Worten hat mich untergraben. So viele Buchstaben und Hüllen, dabei sehe ich nur ein Ei. Das Ei liegt oberhalb meiner Lider, erscheint an einem mysteriösen Ort jenseits meiner Stirn, weder innerhalb noch außerhalb meiner Selbst.

Das Bild eines Eis. Als Konsequenz: Das Gefühl, nochmal zum Supermarkt gehen zu müssen.

Also, was war nun zuerst da? Das Huhn oder das Ei? Das Wort oder das Bild?

Ich bin neugierig: Was passiert in deinem Gehirn, wenn du an deine Mutter denkst? Das Wort Mutter?

16.06.2021, 19:29

Liebe Ella,

entschuldige bitte das unangenehm lange Schweigen meinerseits – betrachte es vielleicht als Wiedergutmachung der Wortflut zuvor. Wenn ich das Wort ‘Mutter’ höre, sehe ich eine Fotografie meiner Mutter, in welcher sie meine kleine Schwester, damals eine Neugeborene, im Krankenhaus in den Armen hält. Es gibt eine zweite Fotografie, auf der man mich, gerade einmal drei Jahre alt, bei ihr am Krankenhausbett stehen sieht, in der Hand eine Fanta-Dose. Ich glaube hierbei handelt es sich um meine erste Erinnerung – ich erinnere mich an die Fanta-Dose – wie ich sie im Krankenhausaufzug, mein Vater neben mir, in der Hand halte und mich freue. Daran, meine Schwester, diesen neuen Mensch, im Krankenhaus gesehen zu haben, erinnere ich mich nicht…

Was hältst Du von diesem Textauszug:
(Keine Sorge – es besteht, so meine Hoffnung, ein thematischer Bezug):

“An nichts so richtig – filmästhetischen Kram. Findest du nicht auch, dass der konventionelle Film etwas faschistisches hat? Alles muss immer sichtbar sein. Nichts wird offen gelassen. Das Publikum wird von einer Einstellung in die nächste gehetzt, sodass die Bilder gar nicht atmen können. Die grundsätzliche Methode in vollendeten Bildern zu erzählen ist faschistisch, weil Bilder bereits den letzten Schritt verkörpern und die Gedanken in unseren Köpfen kolonialisieren. Sie befehlen mir, was ich zu sehen habe. Wörter hingegen sind lediglich abstrakte Symbole der Wirklichkeit, sie überlassen unserer Fantasie den letzten Schritt. Ich sage: Das schöne Kind lacht im Blumenfeld. Und deine Fantasie formt ein freies Bild, das nur dir gehört. Dasselbe gilt für die Musik“, sage ich bestimmt und bin selbst überrascht.“



20.06.21, 23:51

Lieber Leo, 

spannend, dass du eine Fotografie siehst, und keine echte Erinnerung. Gibt es deine Mutter auch als etwas Bewegliches in deiner Erinnerung? Könntest du sie dir vor dem inneren Auge vorstellen, an irgendeinem Ort?

(Anekdote: Was von der Geburt meines jüngeren Bruders hängengeblieben ist, ist ebenfalls nicht dieser sonderbare neue Mensch – sondern ein Plüschtieraffe, den ich von den Hebammen geschenkt bekommen hatte. Kommt man denn als Kind schon materialistisch auf die Welt?)

Naja. Zurück zum Blabla: 

Film ist ein visuelles Medium. Folgt man deinem oben zitierten Text, sollte man nie wieder Filme schauen und ab sofort nur noch zur Literatur greifen, besser noch, die Augen verschließen.

Ich habe mich zurückgehalten, den Begriff Faschismus – ein großes und schweres Wort – in Google reinzuhauen, um eine so offene Verwendung zu überprüfen. Ein weiteres von diesen vielen vielen Wörtern.

Den Urheber dieses Textes würde ich gerne fragen: Ist die Mona-Lisa für dich faschistisch? Ist ihr berühmtes Lächeln vollendet und eindeutig?

Ich gebe zu: Bilder verbergen nichts. Doch solange die Bilder atmen, großzügig gewählt sind, kann ein jeder selbst bestimmen, wohin er sieht. Und geht es gleichzeitig im Kino nicht gerade darum, was man nicht sieht? (Die Leinwand als Fenster zu einer viel größeren Welt jenseits des Frames.) 

Wenn Bilder nichts verbergen, ist zumindest ihr Sinn immer zweifelhaft (wenn nicht sogar irrelevant). Und genau das unterscheidet sie von Worten, Worte, die immer einen Sinn (oder mehrere) haben, denn ist das nicht die einzige Funktion der Wörter? Den Objekten und Bildern um uns herum einen Sinn zu verleihen – und damit eine Berechtigung zu existieren?

Um dir noch etwas zurückzuspielen; ein Satz aus Hermann Hesses Siddharta

„Es gibt kein Ding, das Nirwana wäre; es gibt nur das Wort Nirwana.“



24.06.31, 14:54

Liebe Ella,

danke für deinen schönen Brief. Fantadosen und Plüschtieraffen.

Meine Mutter existiert auch als ein sich bewegender Mensch in meiner Erinnerung und es gelingt mir auch, sie in nie dagewesene Fantasieräume zu setzen, wenn ich mich anstrenge, doch es fällt mir schwer. Ich denke, das Schubladenarchiv meines Hirns hat wohl die Karteikarte zum Begriff ‘Mutter’ mit dem eindeutigsten Bild beschrieben: Eine Frau, die ein Neugeborenes in ihren Armen hält.

Ausgangspunkt für die faschistoide Qualität der Bilder ist lustigerweise ein Gedanke Roland Barthes zum Wesen der Wörter gewesen: “… die Sprache als Performanz aller Rede ist weder reaktionär noch progressiv; sie ist ganz einfach faschistisch; denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, es heißt zum Sagen zwingen.” Sobald der Mensch die Sprache erlernt hat, kann er nicht mehr anders, als sie im inneren Monolog (den Gedankengängen) wieder und wieder zu produzieren. Überfallartig aus dem Nichts: EIER KAUFEN!

Zum Bild, das verbirgt, anstatt zu offenbaren, schießt mir Kiarostami und seine Position, dass nur der halbe Film für ihn interessant ist, in den Kopf – Im Anschluss die Frage: Stellst Du Dir manchmal vor, dass das Bild hinter den Grenzen seiner Rahmung weitergeht? Gibt es in Deinem Kopf gar den Spiegel zum tatsächlich vorhandenen Bild, den Gegenschuss, welcher dem gerade laufenden Film eine Form von Dreidimensionalität verleiht?

19.07.2021, 11:02

Lieber Leo,

ich stelle mir IMMER vor, dass ein Bild hinter der Rahmen weiterläuft…für mich ist es das, was Kino seine Magie verleiht. Die Leinwand ist keine abgeschlossene Welt, so wie ich es beispielsweise im Theater oft erlebe; die Leinwand gibt mir einen Impuls, der mich dazu beeinflusst, eine ganze neue Welt zu erleben. 

Das Filmemachen wird dadurch zu einer Arbeit, die mit der Vorstellungskraft des Publikums arbeitet und dadurch deutlich weniger erklären muss. Es gibt keine unsichtbaren Worte, aber es gibt unsichtbare Bilder. Anders gesagt: Wörter beschreiben, was ist. Bilder können zeigen, was nicht ist, bzw. sein könnte. Bildlücken, die von jedem Individuum ausgefüllt werden können.

Ich spinne nur etwas herum….

Wenn jetzt laut Roland Barthes Bilder UND Worte faschistisch sind, frage ich mich, was da eigentlich noch übrigbleibt.

Vielleicht nur noch der Versuch, damit umzugehen.

Es war schön, mit dir zu schreiben.

Und jetzt muss ich mich wieder den Bildern widmen :^)


Ella Knorz ist eine einundzwanzigjährige Filmemacherin, die Filmregie an der HFF München studiert.

https://vimeo.com/ellaknorz

The streets are noisy and dusty where I’m from. The thing about making time pass is that it doesn’t require a lot of making. Among was a very good friend of mine, but he’s very quiet, he doesn’t make a lot of noise, you see. They also put condensed milk in coffee – it makes everything taste better – the condensed milk I mean. And Among would tell me – although he doesn’t talk as much – why he doesn’t like it in his coffee, he told me he understands that it lasts way longer than normal milk, but he thinks it’s a bit too strong for his taste.

On most Sundays I usually take the motorbike to SinUt (you know where they serve fresh chicken noodles and condensed milk coffee ) and I’d just sit there – smoking of course and eating – and wait and see who comes. It’s almost like an ongoing church service – except it’s better – no one tells us what is right and wrong and what we should do to obtain our one way ticket to the heavens. It’s just you and yourself but at the same time with the friendly company of quiet half-strangers. Half-strangers are people you know of. And there’s plenty of them. Among is a step higher than half-stranger to me – we don’t have each other’s address or landline numbers – I’m not even certain he owns a telephone back home. But we’d meet every Sunday.

Cause I’m there.
And so is he.

Edlin Jap is a 19 year old Photographer and Art Director who’s currently in search for herself in the city of Berlin, or more precisely in the heart of Kottbusser Tor.

https://www.instagram.com/edlinjap/

„I have to say after Days of Being Wild – because the film did not do well in the box office – it was very difficult to find someone to produce our film. So we started our own company and we produced our own productions. Most of the time we were working with very tight budgets. Like Chungking Express – basically we made this film like a student film. We didn’t have time for a big setup. At that point, we called ourselves CNN. We just did it like CNN, bring the camera and shoot it, without permit, without any license. We even got caught because we shot in the subway without any license and we had a warning from the airport because we just broke in there and shot it. Everyday is like planning a robbery. And in fact some of our style came from there, a lot of handheld and step-printing.“ – WKW, Museum of the Moving Image Pinewood Dialogues, 2008

Liebe Francesca,

die moderne Welt, ich verstehe sie nicht mehr. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass es nicht auf alte und nicht auf neue Form ankommt, sondern darauf, dass man tätig ist, ohne an irgendwelche Formen zu denken. Man ist tätig, weil sich im Inneren etwas rührt, etwas, dass frei aus der Seele hervorströmen möchte. Ohne Konsens, ein neues System, dass jeder und jedem erlaubt, sich zu verselbstständigen. Und so hast du mich mit deinen Fotografien dazu bewegt, mich selbst in Szene zu setzen, mich auszuprobieren in der Selbstinszenierung.

Die Fähigkeit die Wirklichkeit zu sehen, verlangt die Schulung des Auges. Erst wenn ich richtig sehen kann, kann ich das Gesehene in angemessener Art und Weise zum Vorschein bringen; ich kann es zeigen. Heißt das, dass ich zuerst erkennen muss, wer ich bin, um mich selbst zu zeigen, um mich selbst in Szene zu setzen? Jetzt stehe ich vor diesem Bild, einer Fotografie die eine Schildkröte zeigt, die durch einen leeren und morbiden Raum kriecht, beobachtet von einem Mädchen, dessen Gesicht verdeckt ist, das aber trotzdem hinsieht. Dieses Mädchen bist du. Du bist in diesem Moment der Bewegung gefangen, eingefangen und dem Betrachter ausgeliefert. Du hast alles ganz bewusst inszeniert, im existenziellen Interesse deiner selbst, den Eindruck, den du dabei abgibst, nach Möglichkeit zu kontrollieren. Es ist deine Performance, die mit der Kamera in der Funktion des zwischenzeitlichen Publikums eingefangen wird. So ist das Bild die einzig richtige Art und Weise, dich auszudrücken, um deinen Formen des Denkens wie die Inspiration, die Intuition und vor allem die Imagination [Imago – lat. Bild] in einem Werk zum Vorschein zu bringen. Das, was du siehst, zeigst du mir durch deine Fotografie. Du bist die Künstlerin katexochen. Du warst die Außenseiterin im künstlerischen Leben deiner Zeit. Du warst fähig zu leiden, hast dich verschlissen. Deine Fotografien sind Inszenierungen, die ein Bündnis mit Fantasie und Wirklichkeit eingehen, die die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen – deine Fähigkeit, in der Realität zu erscheinen und aus ihr herauszutreten, wie ein Geist – und mich als Betrachtenden immer mit Fragen zurückzulassen. Ein Gebilde nach deinen Regeln gebaut, schafft eine traumähnliche Atmosphäre, zart, voller Melancholie, wie aus dem Surrealismus entschlüpft. Diese erdachte Welt gleicht einem Spiel zwischen Irdischem und Übersinnlichem. Das Spiel als etwas freies, das den zur Freiheit verurteilten Mensch zum Selbstentwurf befähigt und zum ersten Mal zeigt, dass der Mensch das sein kann, was dieser als sein Selbst, als die ihm eigene Person kreiert.

Du bist aus dem Fenster gesprungen und nach dir die Sintflut. Eine Flut an Bildern aus der virtuellen Welt überschwemmen mich und erschweren mir das klare Sehen. Ich frage mich, ob du dir damals schon ausgerechnet hast, welche Tragweite und welchen Einfluss dein Werk auf alles Kommende und jetzt Vorhandene haben wird. Ein Bild kann heute jede oder jeder produzieren und verbreiten. Jede oder jeder kann sich selbst in Szene setzen, wenn diese oder dieser das Spiel mit dem Bildern beherrscht und somit bekannt, erkannt und prominent werden. Es ist die kindliche Sehnsucht nach Erfolg und Ruhm, doch bei dir war es der brennende Wunsch, als Reformerin der Fotografie wirksam zu werden. So waren doch deine Werke die erste Geste, die zu dieser Entwicklung überhaupt beitrugen und zu einer weiteren führten. Heute ist es selbstverständlich, den Mensch als Begriff der Kunst in die Gesellschaft hinüberzuführen. Die Kunst ist nun dahin gekommen, dass der Mensch selbst das Kunstwerk ist, wobei die Qualität des Kunstwerks fraglich bleibt.

Heute ist das Zeigen dem Sehen vorrangig. Es wird alles gezeigt, was vor die Linse kommt. Man schießt auf den Mensch, auf den sich darstellenden Mensch, auf die ganze Schönheit der Erde, auf die Straßen, die Blumen, die Gebäude. Die Hauptsache ist, dass man schießt. Doch im Zentrum steht nicht das vom fotografierenden Subjekt Gesehene, sondern, dass das Gezeigte von Anderen gesehen wird. Nicht

der Inhalt, sondern der Ausdruck soll überzeugen. Vor allem das Hervorheben der eigenen Person und ihr ewiger Geltungsdrang sollen künstlerisch inszeniert sein, um ein Maximum an Aufmerksamkeit zu generieren. #how_to_become_famous_on_instagram? Dieser Drang des Zeigens und die gewollte Inszenierung überrumpeln oftmals die Betrachterin oder den Betrachter und lassen diese oder diesen verständnislos fragend zurück. Dann stellt sich den Betrachtenden nicht die Frage, wie der Inhalt zu deuten, sondern wo der Inhalt überhaupt abgeblieben sei. Wenn es der Fotografin oder dem Fotografen nicht gelingt das Gesehene in der Selbstinszenierung zum Ausdruck zu bringen, dann erscheint das Aussehen der Gesten mechanisch, als eine sinnlose Pantomime und das Gezeigte ist nur noch stumpfsinnig und leer. Folglich spiegelt sich in der Fotografie eine Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst und die Selbstinszenierung dient lediglich der Verbreitung einer Lüge über die eigene Person, die einer Täuschung aller gleicht. Der moderne Mensch missbraucht die Selbstinszenierung in der Fotografie für eine Hervorhebung der eigenen Person, während du diese zum Zeigen des von dir Gesehenen gebrauchtest. Der Unterschied ist, dass du in deinen Fotografien immer du selbst bist. Zwar spielst du eine Rolle, sprichst durch eine Maske, aber du bleibst immer konsequent bei der Wahrheit und die oder der Zuschauende sieht immer dich. Deine Fotografien haben das etwas, das Geheimnis, welches unerklärbar ist, jedoch da ist, spürbar ist, unterbewusst wahrgenommen werden kann, schlussendlich das Erhabene, was die Fotografien erst zu Kunstwerken erhebt. In einem Wort zeigst du das Gesehene wahrhaftig. Ich möchte einmal sehen können wie du. Ach, wenn ich nur einmal so sehen könnte wie du, Francesca.

Ich bin ein Fotograf, der schreibt, jedoch noch nie eine Kamera in der Hand hatte und Legastheniker ist.

Erregt grüßend

Nolram Beinhart

Regie: Marlon Bienert
Performance: Marie Elise Hufnagel

Marlon Bienert ist Videokünstler und studiert Architektur an der TU München.

An anderer Stelle schreiben wir:

„Wir sehen den Diskurs in all seinen Formen als wesentlichen Teil der Filmkultur.“

Um dieser Behauptung gerecht zu werden folgt nun die Kritik der filmischen Gedanken eines Enkels von seiner Großmutter. Somit wird der Reflektion der Spiegel vorgehalten.

Zwischen den Zeilen offenbart sich wieder und wieder die Erinnerung an eine Zeit, in der die Filme laufen lernten. Nun, da die Filme zum Hausarrest verdonnert sind, ist es an uns, dafür zu sorgen, dass sie ihrer Lieblingsbeschäftigung – dem Laufen im Kino – auch zukünftig ohne Krücken nachgehen können.

– Leo Geisler

My grandmother never saw Marcello Mastroianni. But she met him when she read my letter to him.


Her critique of my writing became a conversation about cinema. Cinema as an analogy to her flawed marriage to my grandfather. 

Read the original visual letter here: https://filmdaemmerung.studio/2020/12/28/lieber-
marcello/





– Louis Gering

Directed by Louis Gering

Dear Sir/Madam,

I hope this correspondence finds you well. Unfortunately, I am writing to Lacuna, Inc. to bring attention to the fact that I am extremely dissatisfied with the quality of services provided by your company. I am of course referring to the services provided to me on 15/11/2020, namely the focused erasure of recent troubling memories.

I believe that in this instance I have been the subject of – quite frankly – customer negligence. As stated by the terms and conditions expressed not only in the contract which I signed with your company, but in the televised commercial which first brought my attention to your services, I was informed that Lacuna provided a “patented, non-surgical procedure which would rid me of painful memories of my choosing, in turn allowing for a new and lasting peace of mind”.

At NO point in the contract I signed with Lacuna was it disclosed that I would still be afflicted by the emotional imprintof these memories. In the weeks that have followed your procedure, I have found myself living in a nightmare. I have been riddled with a most profound sense of melancholy and abject despair, almost certainly associated with an object and/or person. I believe it is a person, as I am somewhat triggered whenever I hear the derived variant of a specific Latin name – which I am forbidden to refer to as stated by the terms of my contract – although I will disclose that this name refers to the phenomenon of light.

I believe this truth is evident in the fact that I simply cannot look at lights anymore, even the lights in my own home. They hurt my head and I want to smash them all up. Whether or not this is the result of some residual trauma still associated with whatever memory has now been displaced from my consciousness, or it is merely a biochemical side-effect of the procedure, I do not know (though if I am able to determine this affliction as having resulted from the latter, then I must inform you that I have every intention of suing your company).

Indeed, I cannot sleep, as a result of some voice in the back of my head telling me to (pardon this expletive) “f**k sleep” itself. I have been subjected to a recurring dream wherein I am standing on the bank of some pond in the blazing sun. It’s a rather big pond, where ducklings waddle along the banks during the day, and rats in turn scuttle by night. It’s situated between a big park and a long, winding road that looks as if it has been lifted from American suburbia (which is in itself odd, as this park is unmistakeably a place which I have visited many times in North London).

In this dream, I’m standing on the bank of the pond in Springtime. There’s this girl in my arms, but she’s not really there. I can feel her hair and her clothes and her skin pressing against mine, but there is no physical matter in between my arms, and as such they are merely coiled around thin air. This girl keeps telling me she’s about to sink into the soil and asks me to go with her into the water to stop her from getting trapped. I try to help her move into the water, but I can’t, because as previously established, she isn’t really there. She’s like thin air, just passing through me.

So the girl lets out this bloodcurdling scream; some strange, cacophonous sound comprised of the dissociated fragments of what sounds like verbal abuse. The scream is deafening, and it causes my ears to bleed so much that I collapse to my knees. And then I burst into tears because I know the things she’s screaming about are not true and are just horrible lies that have been put in her head, but I still just want her to be OK more than anything. But she just keeps on screaming, all the while getting closer and closer to being trapped without even realising it will be forever. And so I’m reminded of the subtitle of the seminal 2002 Bright Eyes album ‘Lifted or The Story Is in the Soil, Keep Your Ear to the Ground’ (if you haven’t yet heard it, you really should. It’s fantastic). Though of course I can’t keep my ear to the ground because it’s bleeding as a result of the girl’s horrifying screams, and so – not wanting to risk a potential infection caused by the meeting of dirt and blood in my ear – I instead LOOK at the ground, where there’s this note which has been etched into the earth which simply says this:

We do not move through time. We are stationary. And time passes through us.

I find this theory quite difficult to accept; in all honesty, I feel I would not be able to go on living were it in fact true. As a result, I trust you can understand the extreme disappointment that I feel towards the quality of services provided by your company, or at least empathise with the trauma I have experienced as a result of these services.

I must therefore request that you address this issue with immediate attention and notify me if any members of your staff are able to decipher this dream of mine and all its (dis)contents. It is of extreme importance to me that I uncover whether this dream has been placed in my head by your company, or if it is anything to do with the memories which I sought to erase with the aid of your services.

After all, this dream cannot belong to me if all the memories which it has supposedly sprung from have been erased… surely?

Regardless, I expect full compensation for these services. In the event that you are able to refund my memories, please do let me know, in that at least with their restoration I might be able to figure out what the hell this dream is really about. Whoever this person is or whatever she may represent, I think I miss her/it an awful lot, and hope that she/it stops listening to lies which cause her/it to scream and sink into dirt. Perhaps that way, not only will my ears stop bleeding, but she might stop hurting too. In the dream that is.

I look forward to your reply in what will hopefully be a short span of time.

Yours sincerely,

Frank Fregoli Jr.

Written & Directed by Jaden Stone
Additional cinematography by Prentice Wright and Jade de Sylva

Jaden Stone is a 23-year-old filmmaker, writer, illustrator and musician based in London, and alumni of the BFI Film Academy. He is a part of S.O.U.L Celebrate Connect, a festival aimed at supporting ethnic minority filmmakers, and in 2015 received a bursary through the BFI to develop a feature-length screenplay as part of the prestigious Screen Arts Institute. He is currently developing his passion project, a dark fantasy animated sitcom series, as well as a collection of admittedly pretty freaky short stories.

Was ist das Ziel von Filmkritik?

Filmkritik ist im besten Fall eine Fortführung des Filmerlebnisses. Es ist einer von vielen weiteren Glassplittern, die die verschiedenen Lesarten des Gesehen widerspiegeln. Nur so kann ein Film sich selbst überleben, denn solange ein Werk die Kraft besitzt, verschiedenen Interpretationen Leben einzuhauchen, vermag er es auch selbst weiter zu atmen. 

What is the aim of film criticism?

At its best, film criticism is a continuation of the film experience. It is one of many more shards of glass that reflect the different readings of what is seen. Only in this way can a film survive itself. Inasmuch that a film can only breath life, as long as it has the power to inspire. 

Was darf Filmkritik nicht sein?

Das Ziel darf nicht sein das Werk ein für alle Mal zu erklären oder noch schlimmer: darzustellen. Erstens vermag das keine Filmkritik, zweitens würde das den Tod bedeuten. Denn Filme, die sich in Worte fassen lassen, sind nicht der Rede wert. So muss die Sprache Sprache bleiben. Sie kann bloß eine Tür öffnen, welche der Film ihr gezeigt hat. Wenn die Rezipient*in einer Filmkritik sich entschließt, durch diese Tür hindurch zu gehen, wird auf der anderen Seite sicherlich nicht der gleiche Film auf sie warten. Doch man wird sich ihm näher fühlen, als wenn man versucht ihn ohne Kamera wiederzugeben. 

What must film criticism not be?

The goal must not be to explain the work once and for all, or even worse: to portray it. Firstly, no film criticism can do such, and secondly, that would mean death. For films that can be put into words are not worth talking about. So words must remain words. And these words should only serve to open a door that the film has been able to conjure. If the recipients of a film critique decide to step through this door, it will certainly not be the same film waiting for them on the other side. Still, they will feel closer to the idea of the original work, than by means of simply trying to reproduce the film without a camera. 

Was ermöglicht Filmkritik?

Dementsprechend ermöglicht Filmkritik das Überleben oder Nachleben eines Werkes und ermächtig gleichzeitig die Rezipient*in des Werkes eine aktive Rolle in dessen Nachleben einzunehmen. Genau wie der Film selbst, muss die Filmkritik also eine kritische Reflexion über das Leben ermöglichen. Nur so kann die Rezipient*in die Fragen vertiefen, welche der Film aufgeworfen hat und sich ein Leben vorstellen, das sie mit neuen Antworten entscheidend mitgestalten kann. Denn was ist Film, wenn nicht eine Auseinandersetzung mit dem Leben?

What does film criticism enable?

Consequently, film criticism enables the survival or afterlife of a work and at the same time empowers the recipients of the work to take an active role in its afterlife. Thus, like film itself, film criticism must enable a critical reflection on life. Only in this way can the recipients deepen the questions raised by the film and imagine a life that they can shape with new answers of their own. For what is film, if not an examination of life?

Von Louis Gering

Lieber Rainer Werner Fassbinder,

ich schreibe dir in der Form eines Briefes, was vielleicht impliziert, dass ich dir etwas mitteilen möchte. Um ehrlich zu sein, ist dieser Brief jedoch zunächst einseitiger konzipiert: Ich will mich mit mir selbst ins Verständnis setzen, über dich und deine Art, Filme zu machen. Gleichzeitig glaube ich, dass dieses Vorgehen letztlich mehr Allgemeingültiges hervorbringen könnte, als wenn ich mich tatsächlich persönlich an dich richtete und beispielsweise von deiner coolen schwarzen Lederjacke schwärmte, die du so oft trugst. Denn – so hoffe ich zumindest – dieser Versuch, dich besser zu verstehen, könnte auch andere zu einem besseren Verständnis deines wichtigen und kontroversen Oeuvres führen. Dein Beitrag zum kollektiv produzierten Film Deutschland im Herbst (1977/78) scheint mir dazu besonders geeignet, deshalb werde ich einige der in deiner Episode enthaltenen Aspekte herausgreifen und erläutern, warum ich sie als paradigmatisch für dein filmisches Schaffen erachte. Mich interessiert also gewissermaßen die Idee des Filmemachers Rainer Werner Fassbinder. Walter Benjamin versteht die Idee als eine Monade im Sinne des Philosophen Leibniz, „das heißt in Kürze: jede Idee enthält das Bild der Welt. Ihrer Darstellung ist zur Aufgabe nichts Geringeres gesetzt, als dieses Bild der Welt in seiner Verkürzung zu zeichnen.“ [1] Eine Idee konfiguriert nach Benjamin ihre Totalität durch ein sinnvolles Nebeneinander der in ihr enthaltenen Extreme. [2] Dass die Fassbinder-Episode aus Deutschland im Herbst durchaus einige Extreme versammelt, aus denen sich – so meine These – die Idee des Filmemachers Fassbinder speist, sollte im Folgenden ersichtlich werden. Ich mache mich also auf die Suche nach dem Bild der künstlerischen Welt und des filmischen Kosmos des Rainer Werner Fassbinder und werde in gebotener Kürze versuchen, dieses zu zeichnen.

Bevor ich speziell auf deine Arbeitsweise eingehe, möchte ich zum besseren Verständnis ein paar allgemeine Worte über den Film Deutschland im Herbst verlieren. An dem Kollektivprojekt beteiligten sich zahlreiche Filmemacher*innen und Künstler*innen, unter anderem Edgar Reitz, Alexander Kluge, Heinrich Böll oder Beate Mainka-Jellinghaus. Der Film entstand als künstlerischer Reflex auf den RAF-Terror, vor allem die Entführung und Ermordung des damaligen Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Hanns Martin Schleyer, die Entführung des Flugzeugs Landshut in Mogadishu und den Selbstmord der führenden RAF-Mitglieder*innen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim. Diese Ereignisse sorgten in Deutschland für ein angespanntes gesellschaftliches Klima nicht nur innerhalb der Linken; die sogenannte Sympathisantenhetze ließ viele kritische Stimmen aus Angst vor Inhaftierung oder Verfolgung verstummen. Unter anderem um diese Entwicklungen zu kommentieren fanden sich insgesamt elf Regisseur*innen des Neuen Deutschen Films zusammen und schufen eine filmische Intervention, über deren Fassbinder-Episode ich im Folgenden spreche.

Da sich der Film Deutschland im Herbst als Antwort auf den Terror des „heißen Herbsts“ und die daraus resultierende gesellschaftliche Situation versteht, hattet ihr Filmemacher*innen keine Zeit zu verlieren, wolltet ihr nicht riskieren, dass euer Kommentar durch lange Produktionszeiten und das Warten auf den Kinostart bereits an Aktualität und Schlagkraft verlöre. Dies kam dir entgegen, denn deine schnelle Arbeitsweise avancierte früh zu einem deiner Markenzeichen. (Deine Episode war dann auch die erste, die fertig abgedreht und geschnitten vorlag.) Doch nicht nur durch die bei Deutschland im Herbst gebotene Eile wird deine unkonventielle, schnelle, beinahe hektische Arbeitsweise sichtbar. Auch auf der Inhaltsebene deiner Episode thematisierst du diese Methode: Eben aus Paris zurückgekehrt, um die Postproduktion mit abgedrehtem Material zu beginnen, sieht man dich während der Episode immer wieder an deinem Diktiergerät sitzen und am Storyboard für deine Adaption von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz arbeiten. Während der Dreharbeiten oder der Postproduktion bereits am nächsten Drehbuch schrauben – nur auf diese Weise kann es gelingen, in lediglich 13 Jahren mehr als 40 Filme (und darüber hinaus noch zahlreiche Theaterprojekte) zu realisieren…

Ein weiteres Markenzeichen deines Filmemachens, das ebenfalls bereits seit dem Frühwerk als typisch für dich zu gelten hat, war die Beteiligung enger Vertrauter am künstlerischen Prozess. Deine ersten Filme Liebe ist kälter als der Tod, Katzelmacher oder Der amerikanische Soldat weisen beinahe alle einen identischen Cast und eine identische Crew auf – die sogenannte Fassbinder-Clique. Berühmt gewordene Fassbinder-Stars wie Irm Hermann oder Hannah Schygulla kanntest du bereits von deiner Zeit im Münchener Undergroundtheater der 1960er-Jahre. Auch in Deutschland im Herbst sind die Schauspielenden neben dir selbst vor allem dir nahestehende Personen: Zum einen ist da Armin Meyer, dein Geliebter, der sich 1978 nach der Trennung von dir das Leben nahm. Zum anderen findet sich dort Liselotte Eder, deine Mutter. Sie spielt in mehreren deiner Filme kleine Rollen, das Besondere an Deutschland im Herbst ist jedoch, dass keine*r der Schauspielenden fiktionale Rollen, sondern stattdessen sich selbst spielt. Diese Art der Darstellung, in der außerfilmische Realität und filmische Inszenierung überlappen, ließe sich vielleicht als Grundprinzip der äußerst provokanten und medienwirksamen Persona fassen, die du dir im Laufe deiner Karriere schufst. Das Hervorgehen der Fassbinder-Clique aus dem kommunenartig geführten Münchner Action- und antiteater sowie die kollektive Dimension des Deutschland im Herbst-Projekts verweisen außerdem darauf, dass du als Regisseur an alternativen, vom antiautoritären Zeitgeist der 68er-Generation gekennzeichneten Produktionsweisen interessiert warst. Dass die Aussagen vieler deiner Kollaborateur*innen deinen Regiestil und dein Auftreten als cholerisch und einzelgängerisch ausweisen, benennt lediglich einen der zahllosen Widersprüche im Schaffen des vielleicht wichtigsten künstlerischen Außenseiters der Nachkriegs-BRD.

Dein gesamtes Werk durchzieht eine Auseinandersetzung mit der damaligen bundesdeutschen (die DDR bildet kurioserweise einen blinden Fleck in deinem Oeuvre) Gegenwart und Geschichte – viele deiner eher historischen Filme lassen sich als Geschichte der Gegenwart verstehen. Den Dreh- und Angelpunkt bildet dabei stets die nicht aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit und die so entstandenen Kontinuitäten zwischen Drittem Reich und BRD. Immer wieder kritisierst du die Werte und Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft; in Deutschland im Herbst erklärst du, der Regisseur selbst, einem Journalisten, dass du problematisieren willst. Dir sei es sehr recht, dass wegen deiner Filme Ehen in die Brüche gehen, weil Leute anfangen, das Gegebene als künstliches Konstrukt zu hinterfragen. Um deine Kritik an der deutschen Wohlstandsgesellschaft zu üben, drehtest du hauptsächlich in Innenräumen. Was eignet sich besser, um das immer noch vorherrschende nationalsozialistische Gedankengut zu kritisieren, als die häusliche Sphäre, in die sich die „Altnazis“ und „Mitläufer“ nach der offiziellen „Entnazifizierung“ der Öffentlichkeit zurückgezogen haben? Gilles Deleuze und Félix Guattari liefern in ihrem Buch Tausend Plateaus eine Analyse des Faschismus, die eine gewisse Affinität zu deiner filmischen Kritik der BRD aufweist:

Der Faschismus aber ist untrennbar mit molekularen Unruheherden verbunden, die sich rasch vermehren und von einem Punkt zum nächsten springen, die sich in Interaktionen befinden, bevor sie alle gemeinsam im nationalsozialistischen Staat widerhallen. Ländlicher Faschismus und Faschismus der Stadt oder des Stadtteils, junger Faschismus oder Faschismus des alten Kämpfers, linker und rechter Faschismus, Faschismus in der Ehe, in der Familie, in der Schule oder im Büro […]. [3]

Die Wohnstuben der Wirtschaftswunderzeit als „molekulare Unruheherde“ des domestizierten Faschismus zu entlarven – so ließe sich dein kritisches Projekt ebenfalls fassen.

In Deutschland im Herbst stellst du diese Entlarvung des domestizierten Faschismus anhand eines Interviews, das du selbst mit deiner Mutter führst (bezeichnenderweise in einer Küche oder einem Wohnzimmer), dem Publikum rigoros vor Augen: Diese fordert dort abschließend, dass in einer solchen Ausnahmesituation, wie sie im Herbst 1977 in Deutschland gegeben war, ein autoritärer Herrscher, „der so ganz gut ist“, der Demokratie vorzuziehen wäre. Zuvor hatte deine Mutter immer wieder betont, dass sie niemandem empfehlen würde, in der aktuellen Debatte die Diskussion zu suchen, da die große Mehrheit der Deutschen Demokratie noch nicht internalisiert hätte. An einer Stelle fordert sie sogar die öffentliche Hinrichtung der RAF-Terrorist*innen. Auch Armin fordert schon zu Beginn der Episode, dass die Landshut doch einfach gesprengt und alle inhaftierten RAF-Terrorist*innen erschossen werden sollten. Hier sei allerdings noch einmal an die besondere Inszenierung dieser Episode erinnert: das Verwischen der Grenze zwischen filmischer und außerfilmischer Wirklichkeit. Zwischen das Interview mit deiner Mutter fügst du Szenen, in denen man dich am Telefon und mit Armin über die Flugzeugentführung der Landshut und die angespannte Situation des heißen Herbst sprechen sieht und hört. Du stehst dabei enorm unter Strom, neigst zu Gewaltausbrüchen gegenüber Armin, rauchst, trinkst (Asbach-Cola!) und kokst exzessiv. Als Armin einen jungen Mann ohne Schlafplatz aus einer Bar mit nach Hause bringt, wirst du paranoid und schmeißt den Jungen raus. Zuvor hattest du überstürzt das gerade bestellte Kokain im Klo runtergespült, weil du dachtest, die Polizei sei dir auf den Fersen. Durch deine inszenierte Paranoia gelingt es dir, das gesellschaftliche Klima der Verunsicherung in der privaten Sphäre – und damit auch deren politische Dimension – sichtbar zu machen.

Diese Art der Politisierung des Privaten, die für die 68er-Bewegung zum Schlachtruf wurde, funktioniert bei dir auf eine Art und Weise, die durch ein filmisch-interventionistisches Eingreifen Räume für Verhandlung, Dissens und Konflikte öffnet, um ein neues, anderes Nachdenken zu ermöglichen. Das Gelingen deines Vorhabens hängt meiner Ansicht nach zu einem großen Teil davon ab, wie du gesellschaftliche und staatliche Vorgänge oder Strukturen wie Denunziation und Terrorismus verkörperlichst, inkorporierst oder verleiblichst. Denn, und dies formt den letzten Aspekt, den ich ansprechen möchte: Letztlich sind es immer Körper, auf die die (staatliche) Macht einwirkt. Und Körper sind es auch, die in deinen Filmen leiden. In Deutschland im Herbst wird die Körperlichkeit der beiden schwulen Liebhaber immer wieder in Szene gesetzt: Man sieht dich und Meier gemeinsam nackt im Bett, dicham Telefon mit deinem Penis in der Hand, übers Klo gekrümmt beim Kotzen oder nach einem Nervenzusammenbruch heulend in den Armen Meiers. Häusliche Gewalt – vor allem gegen Frauen – findet sich in vielen (beinahe allen) deiner Filme, am prominentesten vielleicht in Martha. Deutschland im Herbst zeigt deutlich, dass du hier nicht zwischen homosexuellen oder heterosexuellen Paarbeziehungen unterscheidest (Die bitteren Tränen der Petra von Kant kann als lesbisches Analogon zu schwulen Beziehungen in Deutschland im Herbst  oder Faustrecht der Freiheit gelesen werden). Ich interpretiere diese intensive, oft gewaltvolle Körperlichkeit als eine Rückübersetzung der in deiner strukturellen Gesellschaftsanalyse zutage geförderten Gewalt von der Makro- oder molaren Ebene der Gesellschaft oder des Staates auf die Mikro- oder molekulare Ebene der Paarbeziehung. Die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft der Nachkriegszeit, deren Frauenbild dem der Nationalsozialisten weitestgehend glich, prangerst du an, indem du zeigst, wie Männer zu Hause über „ihre“ Frauen befehligen, sie unterwerfen und verprügeln. (Wie gesagt – dieselben Mechanismen machst du auch in homosexuellen Partnerschaften aus.) Solche Szenen sind oft beinahe unerträglich anzusehen und genau deshalb effektiv: Sie machen das Publikum im besten Fall betroffen und wütend, versetzen es in eine Rezeptionshaltung der Negation und nähren schließlich den Wunsch, Veränderung herbeizuführen.  

Nein zu sagen zu dem, was man vor sich hat: das hat in mir wahrscheinlich noch niemand dermaßen provoziert wie du, lieber Rainer Werner Fassbinder. Als ich deine Episode von Deutschland im Herbst zum ersten Mal sah, wurde mir schlagartig bewusst, wie aufgerieben, fertig und kaputt du 1977 schon warst. Sowohl dein Exzess als auch die inszenierte Ehrlichkeit, mit der du diesen zeigst, bedeuten für mich die zwei letzten Extreme, mit denen ich mein notwendig unvollständiges Bild der Idee Fassbinder beende.

Herzlich grüßt

Paul Koloseus


[1] Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1982, S. 30. Freilich spricht Benjamin in diesem Text von dem Zusammenhang künstlerischer Gattungen mit der Ideenlehre. Sein Konzept lässt sich jedoch nahtlos auf das künstlerische Paradigma eines Filmemachers übertragen.

[2] Vgl. ebd., S. 29.

[3] Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 292.

Lieber Edward Yang,

Den ersten Deiner Filme, den ich im Kino sah, sah ich blutend.

Wir trafen aufeinander in einer leeren Kunstgalerie im 19. Stock eines Betonklotzes aus den 80er Jahren. Im Licht der experimentellen Videoarbeiten fragte ich, um wieviel Uhr die angekündigte Performance beginnen wird. Man war sich nicht ganz sicher. Es handelte sich um eine unaufrichtige Form der Kommunikation, denn die Frage war von größerer Bedeutung als die Antwort. Ich war fasziniert von ihren Lederstiefeln und der unbefangenen Art, mit der sie durch die grellschwarzen Räume schritt. Zur Aufführung kam ich zu spät und musste mich in der ersten Reihe auf den Boden setzen, da ich zu beschäftigt damit war, mit meinem Smartphone die Silhouetten fremder Menschen vor den Videoleinwänden zu fotografieren. Während der gesamten Vorführung drehte ich meinen Kopf, um einen Blick ihrer Person zu erhaschen. Aber vergeblich. Enttäuscht erhob ich mich frühzeitig, nahm den Fahrstuhl nach unten, nur um an ihr vorbeizulaufen, auf dem Bordstein sitzend, gelehnt an die Wand des Gebäudes. Die Realität ist das Herrschaftsgebiet der Peinlichkeiten, eine ungeölte Maschinerie, ein Anti-Hollywood. Genau aus diesem Grund genügt es zu schreiben, dass wir uns schließlich für eine Vorstellung Deiner Retrospektive, Edward, verabredeten: Mahjong.

Ich war spät dran und entschlossen, sowohl noch mein Gesicht zu rasieren wie auch die U-Bahn zu erwischen, als ich in den Waschbeutel fasste und meine Finger an den dort hineingeworfenen Rasierklingen schnitt. Ein Verband aus Toilettenpapier musste genügen, da Einwegpflaster in meiner damaligen WG als Luxus betrachtet wurden. Die Finger meiner Rechten in Toilettenpapier gewickelt, eilte ich zur U-Bahn. Wir hatten vereinbart, in einem kleinen Lokal in der Nachbarschaft Nudeln zu essen, bevor wir dann in die Vorstellung Deiner Retrospektive gehen würden. Es war mir peinlich. Egal wie sehr ich auch drückte, meine Finger bluteten weiter. Unaufhörlich saugte sich mein flüssiger Körper in den Zellstoff. Als ich die Linien wechselte, sah ich mich gezwungen in einem unterirdischen Shop Taschentücher – eine dieser Miniaturpäckchen – zu kaufen. Wenig später saßen wir uns gegenüber. Ich reichte ihr die Wasserflasche und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass der Hals des Behälters bepinselt war mit impressionistischen Tupfern in Rot. Auf meine Entschuldigung hin, lächelte sie: „It‘s only blood.“

Sie hatte keine Zeit, mich zur nächsten Vorstellung Deiner Retrospektive, Yi Yi, zu begleiten. Ich erinnere mich, dass sie darüber seltsam traurig zu sein schien. Ich glaube für uns beide ist Dein letzter Film etwas Besonderes, ein Kleinod, geschmiedet aus Bildern und Zeit, etwas, das wir beide am Bordsteinrand funkeln sahen, auflasen und seitdem wie einen ausgefallenen Zahn unter unseren Kopfkissen bewahren. Dein Film erzählt von Krisen, vom Verlieben, Erinnern und Sterben. Heute weiß ich, dass sie sich zu der Zeit selbst in einer Krise befand. Dein Film ist ein Ort der Ruhe, ein Spiegel der menschlichen Kondition, deren unverzerrte Abbildung ihre Turbulenzen auf zauberhafte Weise abzumildern weiß. Deine unaufgeregte Erzählform lässt das Leben als ganzheitliche Symphonie in all seinen Klangfarben, Halbtönen und bittersüßen Melodien hörbar werden. Ich erinnere mich, wie ich alleine im Kino saß und erstaunt feststellte, wie häufig wir, diese Ansammlung fremder Menschen, lachten; an die gordischen Knoten in meiner Brust, kunstvoll gewebt und kunstvoll durchsäbelt; an die grünschimmernden Bürogebäude des nächtlichen Tokyos, gefilmt aus einer vorbeiziehenden S-Bahn.

Oftmals hast Du darauf verzichtet, Deine Figuren unvermittelt abzubilden. Stattdessen filmst Du ihre Reflektionen in den Fensterscheiben. In einer berührenden Sequenz weint eine Frau in dem Schlafzimmer ihres Apartments in Taipei, weil sie ihrer komatösen Mutter nichts mehr zu sagen hat. Ihr Ehemann möchte sie trösten, doch auch ihm fehlen die Worte. In der benachbarten Wohnung beginnt ein weiteres Ehepaar lauthals zu streiten. Von außen sehen wir, wie der noch immer wortsuchende Ehemann, im Hintergrund das Profil seiner Frau, die schluchzend auf dem Bett sitzt, zum Fenster geht, und die Jalousien zuzieht. Ohne das elektrische Licht treten die vorbeiziehenden Autobahnlichter in der Spiegelung des Schlafzimmerfensters in den Vordergrund. Dazu das Geschimpfe aus der Wohnung nebenan, ein Glas zerbricht. Durch meisterhafte Schnitte wie diesen gelingt es Dir, die Tragik eines einzelnen Lebens in seinen kosmischen Gesamtzusammenhang zu setzen, jedoch ohne es zu bagatellisieren. Fast ist man dazu verleitet, sich vorzustellen, welche Menschen jetzt noch durch die Nacht des Ameisenbaus Taipei fahren. Diese Schar Gesichtsloser hinter dem Autosteuer, unbezahlte Extras, manche von ihnen heute vielleicht bereits verstorben, deren Existenz sich zufällig in der Form gelber und roter Punktpaare in Deinem Film niederschlägt, verdrängen jedoch nie die Verzweiflung der schluchzenden Frau. Vielmehr ergänzen sie, diese fernen Tropfen im Fluss der Straße, ihre individualisierte Trauer, indem sie signalisieren, dass man zumindest nicht alleine in das Leben, welches sich viel zu oft enttäuschend und undurchsichtig gibt, geworfen wurde. Sie werden Klangkörper ihrer Melodie in Moll. Zudem markieren sie einen dionysischen Moment der Selbstauflösung: Auch wenn König Ödipus tragisch scheitern wird, wuchert das Leben weiter. Ich fühlte mich erinnert an das Finale von Ozus Später Frühling. Der verwitwete Vater sitzt alleine in seinem leeren Haus und schält einen Apfel. Er wird von nun an eine einsame Existenz fristen, weil seine Tochter geheiratet hat. Die Schale fällt zu Boden und er senkt seinen Kopf, den nackten Apfel in der Hand. Dann ein Schnitt auf den ewigen Rhythmus der Wellenzungen, die über einen Sandstrand schäumen. Im Kern dieses Gedankens schlummert eine enorme Zündkraft: Die Sonne wird auch in 100, auch in 1.000, auch in 10.000 Jahren noch aufgehen. Atme die Luft der Individualexistenz in vollen Zügen, aber nimm dich nicht zu ernst, denn der Kosmos ist ein gleichmütiger Gastgeber. Es ist wie Mr. Ota, der Charakter des japanischen Videospielentwicklers, verkündet: „Why are we afraid of the first time? Every day in life is a first time. Every morning is new.“

Wie glücklich es mich machte zu lesen, dass Du nicht Film, sondern Elektrotechnik studiertest, dass Du für Deinen Master in die Staaten gingst, um in Seattle für ein Mikrocomputer-Unternehmen zu arbeiten, dass Du dort Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes sahst und Dich entschlossest nach Taiwan zurückzukehren, um den alten Film für tot zu erklären, denn du glaubtest an einen neuen. Nicht ohne Grund erwidert NJ, die Figur des Ehemanns aus Yi Yi, auf das Bekenntnis eines Schulfreunds, dass dieser sich nie glücklich fühlt: „Wenn Du nicht tust, was Du liebst, wie könntest Du es auch sein?“ Für einen Augenblick wurde die Luft über dem Atlantik zum elektrischen Leiter und ein gleißender Lichtbogen zuckte zwischen Kontinentaleuropa und der Westküste Amerikas. Wenige Jahre später sollte es dann das Taiwanese New Cinema sein, das die Kinolandschaft entscheidend prägte. Ich erinnere mich, wie ich aus dem Kino kam und mich fühlte, als hätte ich in eine Autobatterie gefasst, es wäre keine Überraschung gewesen, stünde mein qualmendes Haar in alle Richtungen ab, wie ich mich in die U-Bahn setzte, in die Gesichter der fremden Menschen auf der Sitzbank gegenüber von mir blickte und mich in ihren müden/ausgelaugten/apathischen Mienen wiederfand, etwas entdeckte, das einen Riss durch die gläsernen Trennwände des Großstadtlebens zog. Ich denke, es ist genau das, was Du wie niemand sonst beherrschst: Ein Kino der Menschlichkeit. Das ist der Grund, warum Dein früher Tod ein so ein unbeschreiblicher Verlust ist. Ich erinnere mich, wie ich schließlich aufstand, um die Linien zu wechseln, wie ich ein Kleinkind sah, das auf einem Rollkoffer saß und von seinen Eltern, die Hand der Mutter auf seinem Rücken, behutsam durch die das Menschengewusel des U-Bahnhofs geschoben wurde. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie erinnerte es mich an Dich.

Herzlichst,

Leo Geisler