Hinter den Kulissen der jährlichen Verleihung der goldenen Essiggurke. Ein Programm des Deutschen Filmförderfonds. Diesjähriger Host: Nolram Beinhart (rechts)

Eine salzige Empfehlung für süße Abende vor dem Glotzofon. And the Essiggurke goes to…

10. Athena (Romain Gavras, Iconoclast/Netflix)
Kino als Adrenalin Injektion — von der ersten Minute bis zur letzten Schlacht wird in diesem französischen Action-Drama ein Feuerwerk abgefackelt, das einem die Sprache verschlägt. Eine atemberaubenden Plansequenz jagt die nächste, wobei man unentwegt mit offenem Mund zuschaut und sich fragt, wie zur Hölle die Kamera das alles schafft. Es ist ein technisches Meisterwerk, das thematisch in die Fußstapfen von La Haine (Hass, 1995) tritt. Der Ausgangspunkt ist ein Polizeimord im fiktionalen Pariser Randbezirk „Athena“. Die Reaktion darauf ist eine organisierte, fast militante Form der Gewalt. Es sind nicht mehr die kleinen Gangster, die wie in La Haine den Aufstand Proben. Es ist die wirkliche Revolution einer neuen Generation, die sich von der Gesellschaft nicht länger an den Rand drücken lassen will, die ihre Realität, bestehend aus Diskriminierung und Polizeigewalt, in Brand setzen will. Regisseur Romain Gavras fokussiert sich jedoch etwas zu sehr auf die technische Umsetzung, anstatt auf die tiefergehende Problematik von Rassismus, Perspektivlosigkeit und Gewalt einzugehen. So gleicht der Film eher einer geplanten Sprengung als einem großflächigen Stadtbrand — technisch unglaublich eindrucksvoll, aber doch nicht ganz die Naturgewalt, die alles mit sich reißt. 

9. NOPE (Jordan Peele, Monkeypaw Productions)
In diesem Sci-Fi Neo-Western/Horrorfilm lässt der neue Meister des Gruselkinos Cowboys auf Aliens treffen. Eine absurde Prämisse, die in den Händen von Jordan Peele jedoch eine Falltür bietet, einen philosophischen doppelten Boden. NOPE ist auf den ersten Blick ein eindrucksvoller Blockbuster. Ein überdimensionaler Unterhaltungsfilm, der Pferde in die Luft katapultiert, ganze Häuser in Blutregen taucht und eine fliegende Untertasse über die unendlichen Weiten des wilden Westen gleiten lässt wie einen geisterhaften Schatten. Epische Bilder, tiefe Ängste, großes Entertainment. Doch auf den zweiten Blick ist NOPE ein kritischer Blick auf genau diese Art der Unterhaltung. Es ist ein Spektakel, welches das Spektakel selbst hinterfragt. Es stellt die Frage, warum wir nicht wegsehen können, indem es uns nicht wegsehen lässt. Der Twist liegt hier darin, dass die Protagonist*innen nicht vor dem UFO fliehen, sondern es verfolgen, es mit der Kamera einfangen wollen und so für die eigene Zwecke einspannen möchten. So dreht der Film das Spiel auf den Kopf. Auf einmal wird das Spektakel selbst zum Mittelpunkt und wenn das Spektakel zurückblickt, merken wir, wie selbstzerfleischend unsere Obsession damit ist. Peele bietet hier das ganz große Kino auf und stellt währenddessen noch den Anspruch, über unsere Sehgewohnheiten nachzudenken. Durch das selbstreflexive Spiel mit der Unterhaltungsindustrie ist man sich jedoch manchmal nicht ganz sicher, ob ein Witz sich selbst auf die Schippe nehmen will oder einfach schlecht geschrieben ist. So verliert sich der Film bisweilen in einem Wirrwarr aus übererklärenden Narrativen und high-concept Kritik. NOPE reicht also nicht an die sozialkritische Kohärenz von Peeles Meisterwerk Get Out heran, ist aber trotzdem eine imposante Lektion in Sachen filmischer Sprachgewalt.  

8. Bones and All (Luca Guadagnino, Frenesy Film Company) 
Nach A Bigger Splash, Call be by your Name und Suspiria zeigt Ausnahme-Regisseur Guadagnino ein weiteres Mal, wie er Genre-Gesetze seinen ganz eigenen Spielregeln unterwirft. In Bones and All vermischt er eine sensible coming-of-age-story mit einem Kannibalen-Horrorfilm. Klingt komisch, ist aber tiefergreifend. Neuentdeckung Taylor Russel spielt eine Jugendliche, die ihrer Natur nicht entkommen kann. Ihr Vater teilt ihre Gelüste für Menschenfleisch nicht und so muss sie sich bald alleine durchschlagen. Auf ihrer Reise verliebt sie sich in einen genauso hungrigen Jung-Kannibalen. Timothée Chalamet, der wie immer zum Anbeißen aussieht, verleiht dieser Rolle eine nonchalante Coolness. Seine Schmalzlocken und schmachtender Blick bieten aber gleichzeitig genug Projektionsfläche für romantische Fantasien, sodass man ohne Mühe ins Schwärmen gerät. Hin oder her, ob er Menschenfleisch zwischen den Zähnen stecken hat. Dem entsprechend ist der erste Kuss zwischen den beiden Misfits auch der beste aus dem letzten Filmjahr. Hierfür sitzen die Frischverliebten in einem Schlachthof über Hunderten von Kühen, die vor dem sicheren Tod zur Beruhigung klassische Musik vorgespielt bekommen. Es ist genau diese morbide Zärtlichkeit, die alle Bilder dieses Filmes durchdringt. Mit Haut und Haaren zu lieben ist ein bittersüßer Drahtseilakt, in dem man manchmal nicht weiß, ob man verschlungen wird oder selbst verschlingt. Bones and All ist ein verzauberndes Märchen, das hierauf keine moralisierende Antwort bietet, sondern eher einen tiefen Blick in die Abgründe der Liebe ermöglicht. 

7. Licorice Pizza (Paul Thomas Anderson, Metro-Goldwyn-Mayer/Focus Features)
„Because it’s fun, Jen“ war Tarantinos Antwort auf die Frage einer Reporterin, weshalb seine Filme so gewalttätig seien. Bei Licorice Pizza könnte man sich eher fragen, warum man einen solchen nostalgischen Unterhaltungsfilm überhaupt drehen sollte. Die Geschichte erscheint schon hundertmal erzählt. Eine klassische Boy-Meets-Girl-Story. Doch die Antwort liefert der Film ganz alleine: Because it is so much damn fun. Gary Valentine (alleine der Name!) trifft Alana Kane. Er ist Kinderschauspieler, der seit seiner einsetzenden Pubertät merkt, dass ihm sein süßes Gesicht bald flöten geht und seine Tage als Kinderstar gezählt sind. Sie ist die 10 Jahre ältere und erwachsene Schulfotografin, in die er sich unsterblich verliebt, aber scheinbar keine Chance haben sollte, je für sich zu gewinnen. Paul Thomas Anderson erzählt diese Liebesgeschichte in episodenhaften Abenteuern, die die beiden im sonnendurchfluteten Los Angeles der 70er-Jahre widerfahren. Und in jedem absurden Abenteuer fühlt man diese grenzenlose Freiheit, mit der man nur durch die Welt geht, wenn man sich unbesiegbar und verliebt fühlt. Es ist eine herrlich naive Brille, durch die wir blicken dürfen. Für Gary und Alana werden selbst politische Ereignisse der Zeit, wie das drohende Ende der Welt und Öl-Embargos zu einer von zahlreichen Möglichkeiten, das Leben bei den Hörnern zu packen. Licorice Pizza ist eine nostalgische Atempause von der Realität. Ein filmischer Zaubertrick, der alle Zuschauer*innen im Kino wieder in pubertierende Romantiker verwandelt. Es ist der kitschige Traum von Amerika, den man für einen Augenblick wieder glauben möchte.

6. C’mon C’mon (Mike Mills, A24)
Dieser Film gleicht einer existenzialistischen Sinnesreise in Schwarzweiß. Joaquin Phoenix spielt einen in sich gekehrten Radiojournalisten, der durch Amerika reist, um Kinder zu allen möglichen Themen zu interviewen. Doch in seinem nuancierten Spiel merkt man schnell eine Schwere und Trauer, die ihn von anderen Menschen distanziert. Als jedoch seine Schwester ihn um Hilfe bittet und er für längere Zeit auf ihren Sohn Jesse aufpassen muss, bekommt sein routinierter Alltag eine Wendung. Er wird genauso wie wir von dem neunjährigen Jesse an die Hand genommen und sieht unsere Welt durch ganz neue Augen. Es könnte die klassische Geschichte eines gebrochenen Mannes sein, der das schöne Leben wieder für sich entdeckt. Doch Jesse ist genauso verloren mit sich und der unerklärlichen Frage seiner eigenen Existenz wie sein Onkel. So wird aus der Geschichte keine happy-go-lucky Erzählung, sondern eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Leben, das manchmal zu groß erscheint, als dass wir nicht davon erdrückt werden könnten. Die Chemie zwischen Joaquin Phoenix und Woody Norman, der Jesse mit einer umwerfenden Ernsthaftigkeit verkörpert, taucht selbst leicht pseudo-philosophischen Gesprächen in eine Gefühlswelt, mit der man nur zu gerne mitgeht. Das Spiel mit den anderen, weitestgehend von Laiendarsteller*innen verkörperten Nebenfiguren erdet die universellen Fragen, die dieser Film stellt, noch weiter und verleiht den Bildern eine vergängliche Schönheit. Mike Mills wunderbarer Kunstgriff, dann auch noch Zitate aus Essays oder Büchern in diesen Film wortwörtlich einzuschreiben, verwandelt C’mon C’mon in ein schillernd illustriertes Lexikon des Weltschmerzes. 

5. Petite Maman (Céline Sciamma, Canal+/Cine+)
Obwohl dieses Kleinod schon auf der Berlinale 2021 Premiere feierte, wurde es in Deutschland erst ein Jahr später in die Kinos gebracht. Mit nur 70min Laufzeit und einem kleinen Kammerspiel-ähnlichen Setting wurde er aber leicht übergangen. Doch dieser Film ist von einer solch starken Sehnsucht erfüllt, dass, wenn man ihn gesehen hat, nicht mehr vergessen kann. Der Film beginnt in einem realistischen Rahmen: eine kleine Familie entrümpelt das alte Haus der verstorbenen Großmutter. Doch durch einen Kniff wandelt sich der Film in eine Fantasie — die zehnjährige Tochter der Familie trifft auf eine neue Spielgefährtin im Wald und realisiert, dass dies ihre eigene Mutter als Kind ist. Durch diese Zeitreise lernt sie ihre Mutter nicht als Mutter kennen, sondern auf eine Art und Weise, die man sich sonst nur erträumen kann. Sie lernen sich auf Augenhöhe kennen. In einem einfachen Trick wie diesem schlummert die ganze Magie des Kinos. So vermag ein kleiner, intimer Film solch große Emotionen auf die Leinwand zu bannen. 

4. Triangle of Sadness (Ruben Östlund, Alamode) 
Kotze, Scheiße und Kaviar. Für eine gefühlte Ewigkeit schaut man den superreichen Gästen einer Luxusjacht dabei zu, wie sie sich übergeben und vollscheißen. Es ist der Kinomoment des Jahres. Nach jedem neuen Kotzeschwall denkt man, es muss jetzt endlich vorbei sein. Doch die Kamera bleibt erbarmungslos auf die armen Kretins gerichtet, die sich in ihrem Überfluss winden. Der Witz wird ausgereizt, bis man allen Schmuck, alle Diamanten, alle Designer-Klamotten nicht mehr sieht, sondern nur noch das Fleisch und die Körperflüssigkeiten, die alle Menschen gemein haben. Das Geniale an Ruben Östlunds Palme d’Or Gewinner ist aber, dass ihm trotz solcher satirischen Überzeichnungen eine nuancierte Gesellschaftskritik gelungen ist. Es wird nicht mit schwarz-weißer Tusche gemalt, sondern hier sind wirklich alle Figuren ihr eigener Abgrund. Egal ob Arm oder Reich. Das merkt vor allem ab dem Mittelpunkt des Filmes. Die geordnete Weltordnung bricht auf einer einsamen Insel zusammen. Doch die neue Hierarchie, welche die ehemalige Arbeiterklasse nun als Herrscher*innen etabliert, errichtet kein Utopia. Die Ausgebeuteten werden zu Ausbeutern und führen den gleichen Machtmissbrauch weiter. Die Form des Films bezieht aber nie eine moralische Position. Wir bleiben mit der starren Kameraführung in der Position einer Wissenschaftler*in, die neue Variablen und ihre Wirkung in einem Testbiotop beobachtet. Der Film nimmt alle und alles in unserer konsumgesteuerten Welt gekonnt aufs Korn, aber erhebt sich nie darüber. So verwandelt sich das anfängliche Lachen in eine zähnefletschende Grimasse, die über die Leinwand hinweg ihr Spiegelbild erkennt. 

3. Aftersun (Charlotte Wells, A24/Mubi)
Bei der Kinovorführung dieses Filmes riecht man die Sonnencreme am Strand, schmeckt das Chlor des Swimmingpools und spürt die Laufbahn von Tränen, die nie zu trocknen scheinen. Aftersun folgt einer elfjährigen Tochter auf der ersten Urlaubsreise mit ihrem Vater nach der Scheidung ihrer Eltern. Es ist irgendwann in den späten 90ern. Sie reisen in ein all-inclusive Hotel in der Türkei. Doch es könnte auch überall sonst wo auf der Welt sein. Denn die einzige Sprache, die man hört, ist die der ebenfalls britischen Touristen. Aber Zeit und Ort könnten nicht egaler sein. Es sind die kleinen Momente, die Charlotte Wells hier wie im Bernstein der kindlichen Erinnerungen gegossen hat. Jedes Detail ein einzigartiger Stein, der aus den Minen des Autobiografischen geschürft wurde und nun eine Fiktion veredelt und zum Leben erweckt. Die Handlung verliert sich zwischen müden Tagen am Pool und lauten Abenden am Buffet. Es ist viel mehr ein Gefühl, das hier entsteht, als eine Geschichte. Eine Sehnsucht, die Vergangenheit zu verstehen. Das Digi-Cam Material, welches Tochter und Vater in ihrem Urlaub einfangen, wird in fragmentarischen Momenten von der nun erwachsenen Tochter in der Zukunft geschaut. So verwandelt sich jeder Augenblick der scheinbaren Gegenwart zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Selbst spontane Schnappschüsse gewinnen an einem Gewicht, das den sonst so sonnigen Film in ein bedrückendes Andenken verwandelt. Es wird nie ausgesprochen, welches Rätsel die erwachsene Tochter in dieser Erinnerung zu entziffern versucht. Doch die emotionale Tiefe, die in jedem Bild mitschwingt, lässt viele Interpretationen gegenüber der Beziehung von Tochter und Vater zu. Charlotte Wells ist in ihrem Spielfilmdebüt ein Meisterwerk gelungen, das unser ungreifbares Verhältnis mit der eigenen Vergangenheit erlebbar macht. Aftersun wirkt nach wie ein leichter Sonnenbrand an der Stelle am Rücken, wo man vergessen hat, Sonnencreme aufzutragen.  

2. The Worst Person in the World (Joachim Trier, MK Productions)
Alle Figuren in diesem Film fühlen sich kurzfristig wie der schlimmste Mensch der Welt, aber trotzdem liebt man sie alle. Joachim Trier spinnt ein Beziehungsdrama in verschiedenen Konstellationen mit Julie, unglaublich gespielt von Renate Reinsve, als Mittelpunkt. Sie ist eine lebenshungrige Frau ende zwanzig, die sich von Hobby zu Job und zurück hangelt. Der Film folgt ihr durch alle Höhen und Tiefen, die sie während zwei romantischen Beziehungen erlebt. Beide Männer lernt man genauso tief kennen und lieben wie sie. Und trotzdem versteht man ihre wachsende Unglücklichkeit, die sie immer wieder einholt, egal wie sehr ihr Partner für sie kämpft. In dem letzten Teil seiner Oslo-Trilogie macht Trier somit die Zeit als ewigen Gegenspieler der Liebe fest. Egal wie perfekt die andere Person anfangs für Julie erscheint, beide treffen sie einfach nicht zum richtigen Zeitpunkt. Und sobald Julie sich auf eine andere Zeitebene bewegt, ist sie für ihren Partner nicht mehr zu greifen, so als wäre sie nicht mehr da. Jede Trennung wird eine herzzerreißende Liebeserklärung an die Liebe selbst und ihre ganz eigene bittersüße Tragik. Es ist die Unzeitlichkeit der Dinge, die Julie im Weg steht, aber trotzdem immer weitertreibt. Trier fängt dieses Gefühl mit einem spielerischen Ideenreichtum ein, der selbst den schwersten Momenten eine magische Leichtigkeit verleiht. Ganz so, als würde man sich im Trennungsprozess neu verlieben. Er hält die Zeit an und lässt Julie durch ein eingefrorenes Oslo rennen, er lässt ihre Haut in Sekunden magisch altern, er jagt uns im Zeitraffer durch ganze Stammbäume und bleibt trotz all dieser Ausgefallenheiten immer ganz nah an Julie dran. So nahe, dass wir uns in ihr wiedererkennen, egal ob ihre Entscheidungen sie gerade zum schlimmsten Menschen der Welt macht oder nicht.

1. Everything Everywhere All at Once (Daniel Kwan & Daniel Scheinert, A24)
Hotdog-Würste als Finger, existenzialistische Steine, ein Waschbär als Chefkoch… Die Daniels haben in diesem Film eine absurde Welt geschaffen, in der wirklich alles möglich ist und trotzdem nichts willkürlich. Im Herzen der Geschichte ist es ein Familiendrama, deren vielseitigen Dynamiken aber durch eine endlose Fülle an Genre-Kreuzungen ergründet wird. Zuerst einmal durch eine ordentliche Prise Sci-Fi, da die Familie in Frage der Auslöser für einen Krieg zwischen allen parallel existierenden Universen ist. So gibt es endlose Variationen der gleichen Familie und ihre scheinbar unersetzbaren Probleme. Egal ob in der Form eines Kung-Fu-Martial-Arts-Filmes, oder in der Ausarbeitung der Hong-Kong-New-Wave, oder als Animationsfilm — die grundlegenden Differenzen der Familie bleiben die Gleichen. In einer fast manischen Schnelligkeit wird man so mit immer wechselnden Szenerien, Kostüme, Charakteren und ganzen Welten konfrontiert. Diese Flicker-artige Montage ist genauso hypnotisierend wie zermürbend. Doch genau darin liegt ihre Intention. Wir erleben den Widerspruch unserer modernen Existenz. In einer Welt, in der wir alles sein können, wissen wir nicht, wie wir gemeinsam miteinander sein können. Die Erkenntnis, dass nichts Sinn ergibt, sollte uns eigentlich befreien, doch die endlosen Möglichkeiten, die sich vor uns auftun, bleiben sinnbefreit ohne dem Gefühl der Verbundenheit und Akzeptanz. Die Verbildlichung der endlosen Möglichkeiten bietet den Daniels eine geniale Grundlage Abertausende ihrer Ideen in einen Film zu pressen, sodass man jeden Moment glaubt, man drohe den Überblick zu verlieren. Diesen Überfluss an Ideen immer wieder stringent zu einem emotionalen Kern zurückzuführen, hält den überquellenden Rahmen jedoch genial zusammen. Everything Everywhere All at Once ist ein maximalistisches Meisterwerk, das eine emotional zugängliche Bildsprache für unsere entrückte Gegenwart entworfen hat. Vor allem das geniale Zwischenspiel von VFX-Technik und Geschichte zeigt einen neuen Weg des Erzählens auf und macht Hoffnung auf eine sich neuerfindende Kinolandschaft. 

Filmkritik zu The Tragedy of Macbeth

Macbeths Dolch Monolog aus Roman Polanskis Macbeth (1971) als neuer Bezugsrahmen zu Dario Argentos Giallo-Horror Film Panik in der Oper (1987).

Hexen, Geister, abgetrennte Gliedmaßen, Gerede von Erektionsstörungen und jede Menge Blut — Shakespeares Macbeth ist der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind. Oder auch das gewisse Etwas, das einen billigen Horror B-Film einzigartig machen kann. Allein der Name flößt noch immer so viel Angst ein, dass er nicht in einem Theater ausgesprochen werden darf. Trotzdem traut sich alle paar Jahre eine weitere Regisseur*in Shakespeares dunkelstes Stück für die Leinwand zu adaptieren. Akira Kurosawa, Orson Welles, Roman Polanski. In diese großen Fußstapfen folgt dieses Jahr Joel Coens The Tragedy of Macbeth. Ein mutiger Schritt, seinen ersten Film, der nicht im co-genialen Tandem mit Bruder Ethan Coen entstehen würde, diesem Text zu widmen. Und als auch noch bekannt wurde das Indie-Darling A24 den Film produziert, waren die Erwartungen kaum noch zu überbieten. Shakespeare, Coen, A24. Es war als würden einem drei Hexen in einer Berlin-Mitte Boutique den Kaffeesatz lesen. Die Prophezeiung: Something wicked this way comes.

Auf den ersten Blick erfüllt Coens Debüt als alleiniger Regisseur auch diese großen Erwartungen. Der Film ist ein technisches Meisterwerk. Auf den zweiten Blick ist es jedoch eine stumpfe und tödlich prätentiöse Interpretation von Shakespeare. Über allem thront der Minimalismus. Coen hat in seiner Version eine klinisch reduzierte Welt geschaffen. Angefangen bei dem kontrastreichen Schwarz-Weiß bis hin zu der klaustrophobischen Kadrage im 4:3 Format, gipfelt diese Ästhetik im spartanischen Szenenbild. Anders als seine Vorgänger hat Coen nämlich nicht auf die Authentizität von mittelalterlichen Burgen vertraut, sondern den gesamten Film im Studio gedreht. Die komplette Kontrolle des Filmemachers über die Mise-en-scène ist dadurch in jeder Einstellung überwältigend. Kahle Torbögen, eigens geschaffene Wolkenbilder oder endlose Wüsten konnten so perfekt arrangiert werden, um kantenscharfe Schattenspiele zu inszenieren. Es sind abstrakte Schachbrettmuster, die so auf der Leinwand entstehen. König und Königin dieses Schachspieles sind Denzel Washington und Frances McDormand, die den kühlen Hintergrund durch ihr unnachahmliches Spiel mit Leben füllen. Anders als Roman Polanski oder Orson Welles, die langatmige Monologe durch Voice Over abkürzten, traut Coen den beiden auch die längsten Textpassagen vor der Kamera zu. Und das mit Erfolg. Man hängt an den Lippen der beiden sowie auch an den buschigen Augenbrauen von Bertie Carvel, der den treuen Königsmacher Banquo verkörpert. 

Diese Lichtblicke werden aber durch das theaterähnliche Szenenbild und dem absoluten Minimum an Inszenierung erdrückt. Coen verbildlicht somit, wie kein anderer Regisseur vor ihm, das Motiv des unausweichlichen Schicksals, welches Macbeth nicht entkommen kann. Jedoch fehlt somit der Geschichte jegliche Tiefe. Sobald das Auge sich an den stylischen Look gewöhnt hat, wird jeder weitere Monolog, jede dramatische Pause zu einer Farce. Denn die Charaktere kommen nie über den Status von Spielfiguren, die einer Ikea-artigen Anleitung folgen, hinaus. Coens künstlerische Vision ist also genauso zermürbend für die Zuschauer*in wie das allgegenwärtige Schicksal für Macbeth. Es erdrückt jede Emotion, jeglichen Horror, der diese Geschichte so spannend macht. Macbeth kann nur wirklich zur Tragödie werden, wenn ihr Protagonist sich auf manische Art und Weise daran versucht, dem Schicksal zu entkommen. Es ist die Hybris, der Größenwahn, das Streben nach Macht und die menschlichen Abgründe, die dieses Shakespeare Stück unsterblich machen. Doch in Coens Interpretation wird all dies glattgebügelt und unter glänzenden Flächen begraben. 

Wenn Macbeth von Banquos Geist heimgesucht wird, reißt sich Denzel Washington nicht etwa die Haare aus oder verfällt einer wütenden Raserei. Nein, in dieser Verfilmung schreitet er aus einem kahlen Zimmer in das nächste, landet punktgenau auf seiner Markierung und setzt nahtlos zum Monolog an. Zugegeben, die wenigen Haare könnte sich Mr Washington nur schwer ausreißen, aber trotzdem kann man nicht umher die Leinwand anschreien zu wollen. Trau dich doch etwas! Ist man der elitären Lesart, die Shakespeare auf ein unerreichbares Podest erheben will, nicht längst satt geworden? Kurosawas Macbeth-Adaption Throne of Blood entzauberte doch schon vor mehr als 50 Jahren den Mythos, dass Shakespeare nur einem elitären Theaterpublikum zugänglich ist. Durch blutrünstige Action-Sequenzen wurde Macbeth zu einem Kinoerlebnis. Es war eine Rückkehr zu Shakespeares Anfängen, als seine Stücke als Spektakel für die Massen inszeniert wurden. Erst später wurden seine Stücke dann als Genuss für wenige fetischisiert. Schon bei seiner Uraufführung im 17. Jahrhundert muss Macbeth eher wie ein Splatter Film gewirkt haben als ein klassisches Drama. Coen tauscht aber Schweineblut und Schießpulver für viel Theaterschminke ein. Es ist genau dieses Missverständnis, welches Shakespeare abtötet, ihn wieder und wieder zu der Galionsfigur einer verstaubten Bildungsklasse macht. Und aus all seinen Stücken bietet Macbeth die größte Chance damit zu brechen. Es könnte ein blutrotes Feuerwerk sein, welches auf der Kinoleinwand abgefackelt wird und dem alten Text neues Leben einhaucht. 

Sowie ich das sehe, sollte echtes Kino sich wagen, Shakespeare in die Gosse zu ziehen, Macbeth in Blut zu ertränken. Alles andere ist eine Verschwendung der gewaltigen Emotionen, die dieser alte Text immer noch entfesseln kann. Ich will Shakespeare nicht als hohes Kulturgut aufgezwungen bekommen, das nur mit Samthandschuhen angefasst werden darf. Heute will ich Macbeth als Splatter-Film sehen, der einem Serienmörder mit schwarzen Lederhandschuhen folgt und literweise mit Kunstblut um sich wirft. Nehmen wir zum Beispiel das Genre des Giallos, des Spaghetti-Horrors. Wie kein Zweiter hat Giallo Meister Dario Argento in seinen Filmen das hässliche Gesicht der menschlichen Begierde unter viel Kunstblut freigelegt. Ähnlich wie Shakespeare spielt er mit den Abgründen, die sich auftauen, wenn man sich dem Verlangen nach Macht, sei es politischer oder sexueller Natur, total unterworfen hat. Argentos Film Panik in der Oper wird zwar nie als Macbeth-Interpretation angesehen, aber es ist der Film, der dem Original am meisten Ehre macht. Die gewaltsamen Morde an einem Opernensemble, das Macbeth aufführt, werden hier so genussvoll dargestellt, dass jeder Hieb und Stich des Serienmörders mehr aussagt als alle Monologe in Coens neuem Film. Während Coen wenig Neues in Shakespeare findet, ergründet das Genre des Giallo-Horrors die menschlichen Abgründe auf selbstreflexive Art und Weise. In Panik in der Oper lässt Argento eine entfesselte Kamera die Opfer des Serienmörders in langen Einstellungen unerbittlich verfolgen. Das Spiel dauert so lange, bis die Zuschauer*in sich bewusst wird dem Mord genauso entgegenzufiebern wie der fiktive Mörder. Das Horror-Genre entpuppt sich hier selbst als Spiegel der eigenen Gewaltbereitschaft. Eine Gewaltbereitschaft, die in den johlenden Zuschauer*innen des 17. Jahrhunderts genauso vorhanden war wie heute in den stillen Sitznachbar*innen eines abgedunkelten Kinosaals. Also: Mach mehr Giallo, Coen! In anderen Worten, traue es der Zuschauer*in wenigstens zu, etwas Neues in den alten Formen des Theaters zu erkennen. Mit dem Western The Ballad of Buster Scruggs hattest du schon mal einen Goldschatz an neuen Erkenntnissen mittels einem altbekannten Genre ausgegraben. Die einzige Frage, die nun nach The Tragedy of Macbeth über bleibt, ist also, was ist hier die wahre Tragödie? Das ein großes Shakespeare Stück einen schrittweit unzugänglicher gemacht wurde, oder das dem großen Joel Coen ohne seinem Bruder an der Seite einfach der Witz fehlt?

LG vom LG (Louis Gering)

An anderer Stelle schreiben wir:

„Wir sehen den Diskurs in all seinen Formen als wesentlichen Teil der Filmkultur.“

Um dieser Behauptung gerecht zu werden folgt nun die Kritik der filmischen Gedanken eines Enkels von seiner Großmutter. Somit wird der Reflektion der Spiegel vorgehalten.

Zwischen den Zeilen offenbart sich wieder und wieder die Erinnerung an eine Zeit, in der die Filme laufen lernten. Nun, da die Filme zum Hausarrest verdonnert sind, ist es an uns, dafür zu sorgen, dass sie ihrer Lieblingsbeschäftigung – dem Laufen im Kino – auch zukünftig ohne Krücken nachgehen können.

– Leo Geisler

My grandmother never saw Marcello Mastroianni. But she met him when she read my letter to him.


Her critique of my writing became a conversation about cinema. Cinema as an analogy to her flawed marriage to my grandfather. 

Read the original visual letter here: https://filmdaemmerung.studio/2020/12/28/lieber-
marcello/





– Louis Gering

Directed by Louis Gering

Was ist das Ziel von Filmkritik?

Filmkritik ist im besten Fall eine Fortführung des Filmerlebnisses. Es ist einer von vielen weiteren Glassplittern, die die verschiedenen Lesarten des Gesehen widerspiegeln. Nur so kann ein Film sich selbst überleben, denn solange ein Werk die Kraft besitzt, verschiedenen Interpretationen Leben einzuhauchen, vermag er es auch selbst weiter zu atmen. 

What is the aim of film criticism?

At its best, film criticism is a continuation of the film experience. It is one of many more shards of glass that reflect the different readings of what is seen. Only in this way can a film survive itself. Inasmuch that a film can only breath life, as long as it has the power to inspire. 

Was darf Filmkritik nicht sein?

Das Ziel darf nicht sein das Werk ein für alle Mal zu erklären oder noch schlimmer: darzustellen. Erstens vermag das keine Filmkritik, zweitens würde das den Tod bedeuten. Denn Filme, die sich in Worte fassen lassen, sind nicht der Rede wert. So muss die Sprache Sprache bleiben. Sie kann bloß eine Tür öffnen, welche der Film ihr gezeigt hat. Wenn die Rezipient*in einer Filmkritik sich entschließt, durch diese Tür hindurch zu gehen, wird auf der anderen Seite sicherlich nicht der gleiche Film auf sie warten. Doch man wird sich ihm näher fühlen, als wenn man versucht ihn ohne Kamera wiederzugeben. 

What must film criticism not be?

The goal must not be to explain the work once and for all, or even worse: to portray it. Firstly, no film criticism can do such, and secondly, that would mean death. For films that can be put into words are not worth talking about. So words must remain words. And these words should only serve to open a door that the film has been able to conjure. If the recipients of a film critique decide to step through this door, it will certainly not be the same film waiting for them on the other side. Still, they will feel closer to the idea of the original work, than by means of simply trying to reproduce the film without a camera. 

Was ermöglicht Filmkritik?

Dementsprechend ermöglicht Filmkritik das Überleben oder Nachleben eines Werkes und ermächtig gleichzeitig die Rezipient*in des Werkes eine aktive Rolle in dessen Nachleben einzunehmen. Genau wie der Film selbst, muss die Filmkritik also eine kritische Reflexion über das Leben ermöglichen. Nur so kann die Rezipient*in die Fragen vertiefen, welche der Film aufgeworfen hat und sich ein Leben vorstellen, das sie mit neuen Antworten entscheidend mitgestalten kann. Denn was ist Film, wenn nicht eine Auseinandersetzung mit dem Leben?

What does film criticism enable?

Consequently, film criticism enables the survival or afterlife of a work and at the same time empowers the recipients of the work to take an active role in its afterlife. Thus, like film itself, film criticism must enable a critical reflection on life. Only in this way can the recipients deepen the questions raised by the film and imagine a life that they can shape with new answers of their own. For what is film, if not an examination of life?

Von Louis Gering

Lieber Marcello Mastroianni,

nach langen Wanderungen träume ich vom Gehen. Wenn ich aufwache, spüre ich den beschrittenen Weg noch unter meinen Füßen, aber ich wünschte zu wissen, wohin mich meine Beine getragen hätten, wenn ich so gehen könnte wie Du. Wahrscheinlich ins Kino, dessen Bedeutung und Idee mir erst durch Deinen Gang bewusst wurden. 

Die Geburtsstunde des Kinos befasste sich schließlich auch mit der Banalität des Gehens. Denn als die Lumiére Brüder 1895 in Paris den ersten Film der Welt “Arbeiter verlassen die Lumiére Werke” vorstellten, verwandelten sie den alltäglichen Akt des Gehens in ein Spektakel. In einer einzigen Kameraeinstellung sehen wir, wie die Tore der Fabrik sich öffnen und Dutzende Leute heraus spazieren, um ihre Mittagspause anzutreten. Die erste Filmaufführung der Welt zeigte im Grunde genommen nichts anderes als Menschen, die gehen. Und trotzdem war es für die Zuschauer*innen eine Offenbarung, als die Bilder das Laufen erlernten. “Echte” Bilder vermochten es erstmals eine Realität einzufangen und auf eine Leinwand zu bannen. Ein objektives Auge konnte endlich die Welt um uns herum bezeugen. Gedichte, Bildhauerei, Gemälde – jegliche vorherige Kunst war daran gescheitert, unsere Existenz so einzufangen. Vor den Augen der mehr als 200 Zuschauer wurde das Zeitalter der objektiven Wahrheit eingeläutet. Nur wusste niemand unter ihnen, dass all dies inszeniert war. Die Arbeiter*innen verließen nicht wirklich die Fabrik, um in ihre Mittagspause zu kommen. Sie ahmten es nach, um der Geschichte, die sie täglich selbst schrieben, gerecht zu werden. Die “objektive” Kamera diente also nur dem fiktiven Spektakel.  

Doch Dein Gang war nie ein Mittel zum Zweck, Marcello. Er war nie ein gehen von A nach B, nie die kalte Motorik einer narrativen Bewegung, die dem Willen der Handlung unterworfen war. Deine Schritte erzeugten eine eigene Dynamik, führten die Kamera und nicht andersherum. So entwarfst Du Landkarten, die eine Welt außerhalb der objektiven Wirklichkeit der Bilder versprachen.

Mehr als 100 Jahre nach der Filmvorführung der Lumiére Brüder, sah ich Dich dann zum ersten Mal in Federico Fellinis La Dolce Vita. Damals nahmst Du mich mit auf einen Spaziergang durch das süße Leben Roms. Wie im Vorbeilaufen zeigtest Du mir die Höhen und Tiefen der irdischen Existenz. Später, in Nikita Mikhalkovs romantischen Epos Schwarze Augen, warst Du bereits älter, doch hattest nichts von Deiner unnachahmlichen Nonchalance eingebüßt. Die Essenz von Romano, dem hoffnungslosen Romantiker, Deiner Figur in diesem Film, verkörpertest Du mit einem einzigen Gang: Um die Aufmerksamkeit von Annas betitelten schwarzen Augen zu erhaschen, stiegst Du in ein Schlammbad hinab, um ihren verwehten Sonnenhut zu retten. Und das in einen blütenweißen Anzug gekleidet. Ich erinnere mich noch, wie Du mit Hut und Gehstock im braunen Morast versunken bist, aber trotzdem nie das versonnene Lächeln abgelegt hast, nie aus dem Tritt kamst. Jeder Schritt, ein Augenzwinkern, das uns Teil Deines Flirts werden ließ. Nur Du konntest den makellos weißen Anzug von Romano so wunderschön durch den Dreck ziehen und am anderen Ende mit unbefleckter Eleganz hervortreten. Egal in welchem Film, es war immer wie ein Rausch dir zu folgen. Ohne je genau zu wissen, warum es Dich nun hier oder dort hinzieht, konnten sich meine Gedanken von der Leinwand lösen und es dir gleich tun – frei durch den Raum gleiten. 

Wenn man dir beim Gehen zusah, folgte man also nicht der filmischen Geschichte, sondern empfand sich selbst als Erzähler, dessen Vorstellung die Grenzen des Ungesehenen sichtbar machten. Als Du zum Beispiel in Fellinis 81/2ein paar Schritte nach rechts gingst, um einen zerknüllten Brief vom Boden aufzuheben, sah ich etwa nicht den Inhalt des Briefes vor meinem Auge, sondern stellte mir vor, wer dir in diesem intimen Moment der Schwäche, der Neugier, abseits der Kamera dabei zusah. Denn Deine Bewegungen waren so beiläufig, so ungewollt, dass meine Augen und Gedanken aufgefordert wurden, es dir gleich zu tun und zu wandern. Dein beiläufiges Schlendern und das legere Herunterbücken ließen mich in mehrere Szenarien eintauchen. Wie würde das verwundbare Ego von Guido, Deiner Figur, auf den Blick eines Anderen reagieren? Würdest Du Dich entscheiden, auf die Person zu zugehen, sie herauszufordern, ihr den Brief unter die Nase reiben? Würde die Person sich ertappt fühlen? Würden wir eine neue Seite an Guido sehen? Ungezähmt, aufbrausend, aus der Rolle des beobachtenden Flâneurs ausbrechend? Der Film wird an die Leinwand projiziert, doch die Geschichte läuft erst abseits an. 

Dein Gang widerspricht somit der Annahme, dass Film ein rein ideologisches Medium ist: Die einzige objektive Wahrheit, welche die Zuschauer der Lumiére Brüder in den ersten bewegten Bildern erkennen wollten, ist nur eine von vielen. Das Kino ist nicht Platos Höhle, in der man angekettet jedes Bild als einheitliche Realität verstehen muss. Die Bilder an dieser neuen Höhlenwand fordern uns auf hinaufzusteigen, den eigenen Gedanken zu folgen, neue Bedeutungen zu erschließen. Dein Gang ermöglichte es mir, ein ums andere Mal außerhalb meines Selbst zu stehen. Deswegen begnüge ich mich auch damit, nie zu wissen, wohin ich überall gegangen wäre, wenn ich so gehen könnte wie Du, Marcello. Denn durch Dich und Deinen Gang unternahm ich Reisen, die meine Beine sich nie hätten erträumen können. 

Danke Maestro.

Wo immer Du nun bist und wohin Du noch je gehen wirst, ich muss dir nicht folgen. Ich darf im Bilde verweilen, das Du in mir heraufbeschworen hast. 

Hochachtungsvoll, 

Louis Gering