Hinter den Kulissen der jährlichen Verleihung der goldenen Essiggurke. Ein Programm des Deutschen Filmförderfonds. Diesjähriger Host: Nolram Beinhart (rechts)

Eine salzige Empfehlung für süße Abende vor dem Glotzofon. And the Essiggurke goes to…

10. Athena (Romain Gavras, Iconoclast/Netflix)
Kino als Adrenalin Injektion — von der ersten Minute bis zur letzten Schlacht wird in diesem französischen Action-Drama ein Feuerwerk abgefackelt, das einem die Sprache verschlägt. Eine atemberaubenden Plansequenz jagt die nächste, wobei man unentwegt mit offenem Mund zuschaut und sich fragt, wie zur Hölle die Kamera das alles schafft. Es ist ein technisches Meisterwerk, das thematisch in die Fußstapfen von La Haine (Hass, 1995) tritt. Der Ausgangspunkt ist ein Polizeimord im fiktionalen Pariser Randbezirk „Athena“. Die Reaktion darauf ist eine organisierte, fast militante Form der Gewalt. Es sind nicht mehr die kleinen Gangster, die wie in La Haine den Aufstand Proben. Es ist die wirkliche Revolution einer neuen Generation, die sich von der Gesellschaft nicht länger an den Rand drücken lassen will, die ihre Realität, bestehend aus Diskriminierung und Polizeigewalt, in Brand setzen will. Regisseur Romain Gavras fokussiert sich jedoch etwas zu sehr auf die technische Umsetzung, anstatt auf die tiefergehende Problematik von Rassismus, Perspektivlosigkeit und Gewalt einzugehen. So gleicht der Film eher einer geplanten Sprengung als einem großflächigen Stadtbrand — technisch unglaublich eindrucksvoll, aber doch nicht ganz die Naturgewalt, die alles mit sich reißt. 

9. NOPE (Jordan Peele, Monkeypaw Productions)
In diesem Sci-Fi Neo-Western/Horrorfilm lässt der neue Meister des Gruselkinos Cowboys auf Aliens treffen. Eine absurde Prämisse, die in den Händen von Jordan Peele jedoch eine Falltür bietet, einen philosophischen doppelten Boden. NOPE ist auf den ersten Blick ein eindrucksvoller Blockbuster. Ein überdimensionaler Unterhaltungsfilm, der Pferde in die Luft katapultiert, ganze Häuser in Blutregen taucht und eine fliegende Untertasse über die unendlichen Weiten des wilden Westen gleiten lässt wie einen geisterhaften Schatten. Epische Bilder, tiefe Ängste, großes Entertainment. Doch auf den zweiten Blick ist NOPE ein kritischer Blick auf genau diese Art der Unterhaltung. Es ist ein Spektakel, welches das Spektakel selbst hinterfragt. Es stellt die Frage, warum wir nicht wegsehen können, indem es uns nicht wegsehen lässt. Der Twist liegt hier darin, dass die Protagonist*innen nicht vor dem UFO fliehen, sondern es verfolgen, es mit der Kamera einfangen wollen und so für die eigene Zwecke einspannen möchten. So dreht der Film das Spiel auf den Kopf. Auf einmal wird das Spektakel selbst zum Mittelpunkt und wenn das Spektakel zurückblickt, merken wir, wie selbstzerfleischend unsere Obsession damit ist. Peele bietet hier das ganz große Kino auf und stellt währenddessen noch den Anspruch, über unsere Sehgewohnheiten nachzudenken. Durch das selbstreflexive Spiel mit der Unterhaltungsindustrie ist man sich jedoch manchmal nicht ganz sicher, ob ein Witz sich selbst auf die Schippe nehmen will oder einfach schlecht geschrieben ist. So verliert sich der Film bisweilen in einem Wirrwarr aus übererklärenden Narrativen und high-concept Kritik. NOPE reicht also nicht an die sozialkritische Kohärenz von Peeles Meisterwerk Get Out heran, ist aber trotzdem eine imposante Lektion in Sachen filmischer Sprachgewalt.  

8. Bones and All (Luca Guadagnino, Frenesy Film Company) 
Nach A Bigger Splash, Call be by your Name und Suspiria zeigt Ausnahme-Regisseur Guadagnino ein weiteres Mal, wie er Genre-Gesetze seinen ganz eigenen Spielregeln unterwirft. In Bones and All vermischt er eine sensible coming-of-age-story mit einem Kannibalen-Horrorfilm. Klingt komisch, ist aber tiefergreifend. Neuentdeckung Taylor Russel spielt eine Jugendliche, die ihrer Natur nicht entkommen kann. Ihr Vater teilt ihre Gelüste für Menschenfleisch nicht und so muss sie sich bald alleine durchschlagen. Auf ihrer Reise verliebt sie sich in einen genauso hungrigen Jung-Kannibalen. Timothée Chalamet, der wie immer zum Anbeißen aussieht, verleiht dieser Rolle eine nonchalante Coolness. Seine Schmalzlocken und schmachtender Blick bieten aber gleichzeitig genug Projektionsfläche für romantische Fantasien, sodass man ohne Mühe ins Schwärmen gerät. Hin oder her, ob er Menschenfleisch zwischen den Zähnen stecken hat. Dem entsprechend ist der erste Kuss zwischen den beiden Misfits auch der beste aus dem letzten Filmjahr. Hierfür sitzen die Frischverliebten in einem Schlachthof über Hunderten von Kühen, die vor dem sicheren Tod zur Beruhigung klassische Musik vorgespielt bekommen. Es ist genau diese morbide Zärtlichkeit, die alle Bilder dieses Filmes durchdringt. Mit Haut und Haaren zu lieben ist ein bittersüßer Drahtseilakt, in dem man manchmal nicht weiß, ob man verschlungen wird oder selbst verschlingt. Bones and All ist ein verzauberndes Märchen, das hierauf keine moralisierende Antwort bietet, sondern eher einen tiefen Blick in die Abgründe der Liebe ermöglicht. 

7. Licorice Pizza (Paul Thomas Anderson, Metro-Goldwyn-Mayer/Focus Features)
„Because it’s fun, Jen“ war Tarantinos Antwort auf die Frage einer Reporterin, weshalb seine Filme so gewalttätig seien. Bei Licorice Pizza könnte man sich eher fragen, warum man einen solchen nostalgischen Unterhaltungsfilm überhaupt drehen sollte. Die Geschichte erscheint schon hundertmal erzählt. Eine klassische Boy-Meets-Girl-Story. Doch die Antwort liefert der Film ganz alleine: Because it is so much damn fun. Gary Valentine (alleine der Name!) trifft Alana Kane. Er ist Kinderschauspieler, der seit seiner einsetzenden Pubertät merkt, dass ihm sein süßes Gesicht bald flöten geht und seine Tage als Kinderstar gezählt sind. Sie ist die 10 Jahre ältere und erwachsene Schulfotografin, in die er sich unsterblich verliebt, aber scheinbar keine Chance haben sollte, je für sich zu gewinnen. Paul Thomas Anderson erzählt diese Liebesgeschichte in episodenhaften Abenteuern, die die beiden im sonnendurchfluteten Los Angeles der 70er-Jahre widerfahren. Und in jedem absurden Abenteuer fühlt man diese grenzenlose Freiheit, mit der man nur durch die Welt geht, wenn man sich unbesiegbar und verliebt fühlt. Es ist eine herrlich naive Brille, durch die wir blicken dürfen. Für Gary und Alana werden selbst politische Ereignisse der Zeit, wie das drohende Ende der Welt und Öl-Embargos zu einer von zahlreichen Möglichkeiten, das Leben bei den Hörnern zu packen. Licorice Pizza ist eine nostalgische Atempause von der Realität. Ein filmischer Zaubertrick, der alle Zuschauer*innen im Kino wieder in pubertierende Romantiker verwandelt. Es ist der kitschige Traum von Amerika, den man für einen Augenblick wieder glauben möchte.

6. C’mon C’mon (Mike Mills, A24)
Dieser Film gleicht einer existenzialistischen Sinnesreise in Schwarzweiß. Joaquin Phoenix spielt einen in sich gekehrten Radiojournalisten, der durch Amerika reist, um Kinder zu allen möglichen Themen zu interviewen. Doch in seinem nuancierten Spiel merkt man schnell eine Schwere und Trauer, die ihn von anderen Menschen distanziert. Als jedoch seine Schwester ihn um Hilfe bittet und er für längere Zeit auf ihren Sohn Jesse aufpassen muss, bekommt sein routinierter Alltag eine Wendung. Er wird genauso wie wir von dem neunjährigen Jesse an die Hand genommen und sieht unsere Welt durch ganz neue Augen. Es könnte die klassische Geschichte eines gebrochenen Mannes sein, der das schöne Leben wieder für sich entdeckt. Doch Jesse ist genauso verloren mit sich und der unerklärlichen Frage seiner eigenen Existenz wie sein Onkel. So wird aus der Geschichte keine happy-go-lucky Erzählung, sondern eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Leben, das manchmal zu groß erscheint, als dass wir nicht davon erdrückt werden könnten. Die Chemie zwischen Joaquin Phoenix und Woody Norman, der Jesse mit einer umwerfenden Ernsthaftigkeit verkörpert, taucht selbst leicht pseudo-philosophischen Gesprächen in eine Gefühlswelt, mit der man nur zu gerne mitgeht. Das Spiel mit den anderen, weitestgehend von Laiendarsteller*innen verkörperten Nebenfiguren erdet die universellen Fragen, die dieser Film stellt, noch weiter und verleiht den Bildern eine vergängliche Schönheit. Mike Mills wunderbarer Kunstgriff, dann auch noch Zitate aus Essays oder Büchern in diesen Film wortwörtlich einzuschreiben, verwandelt C’mon C’mon in ein schillernd illustriertes Lexikon des Weltschmerzes. 

5. Petite Maman (Céline Sciamma, Canal+/Cine+)
Obwohl dieses Kleinod schon auf der Berlinale 2021 Premiere feierte, wurde es in Deutschland erst ein Jahr später in die Kinos gebracht. Mit nur 70min Laufzeit und einem kleinen Kammerspiel-ähnlichen Setting wurde er aber leicht übergangen. Doch dieser Film ist von einer solch starken Sehnsucht erfüllt, dass, wenn man ihn gesehen hat, nicht mehr vergessen kann. Der Film beginnt in einem realistischen Rahmen: eine kleine Familie entrümpelt das alte Haus der verstorbenen Großmutter. Doch durch einen Kniff wandelt sich der Film in eine Fantasie — die zehnjährige Tochter der Familie trifft auf eine neue Spielgefährtin im Wald und realisiert, dass dies ihre eigene Mutter als Kind ist. Durch diese Zeitreise lernt sie ihre Mutter nicht als Mutter kennen, sondern auf eine Art und Weise, die man sich sonst nur erträumen kann. Sie lernen sich auf Augenhöhe kennen. In einem einfachen Trick wie diesem schlummert die ganze Magie des Kinos. So vermag ein kleiner, intimer Film solch große Emotionen auf die Leinwand zu bannen. 

4. Triangle of Sadness (Ruben Östlund, Alamode) 
Kotze, Scheiße und Kaviar. Für eine gefühlte Ewigkeit schaut man den superreichen Gästen einer Luxusjacht dabei zu, wie sie sich übergeben und vollscheißen. Es ist der Kinomoment des Jahres. Nach jedem neuen Kotzeschwall denkt man, es muss jetzt endlich vorbei sein. Doch die Kamera bleibt erbarmungslos auf die armen Kretins gerichtet, die sich in ihrem Überfluss winden. Der Witz wird ausgereizt, bis man allen Schmuck, alle Diamanten, alle Designer-Klamotten nicht mehr sieht, sondern nur noch das Fleisch und die Körperflüssigkeiten, die alle Menschen gemein haben. Das Geniale an Ruben Östlunds Palme d’Or Gewinner ist aber, dass ihm trotz solcher satirischen Überzeichnungen eine nuancierte Gesellschaftskritik gelungen ist. Es wird nicht mit schwarz-weißer Tusche gemalt, sondern hier sind wirklich alle Figuren ihr eigener Abgrund. Egal ob Arm oder Reich. Das merkt vor allem ab dem Mittelpunkt des Filmes. Die geordnete Weltordnung bricht auf einer einsamen Insel zusammen. Doch die neue Hierarchie, welche die ehemalige Arbeiterklasse nun als Herrscher*innen etabliert, errichtet kein Utopia. Die Ausgebeuteten werden zu Ausbeutern und führen den gleichen Machtmissbrauch weiter. Die Form des Films bezieht aber nie eine moralische Position. Wir bleiben mit der starren Kameraführung in der Position einer Wissenschaftler*in, die neue Variablen und ihre Wirkung in einem Testbiotop beobachtet. Der Film nimmt alle und alles in unserer konsumgesteuerten Welt gekonnt aufs Korn, aber erhebt sich nie darüber. So verwandelt sich das anfängliche Lachen in eine zähnefletschende Grimasse, die über die Leinwand hinweg ihr Spiegelbild erkennt. 

3. Aftersun (Charlotte Wells, A24/Mubi)
Bei der Kinovorführung dieses Filmes riecht man die Sonnencreme am Strand, schmeckt das Chlor des Swimmingpools und spürt die Laufbahn von Tränen, die nie zu trocknen scheinen. Aftersun folgt einer elfjährigen Tochter auf der ersten Urlaubsreise mit ihrem Vater nach der Scheidung ihrer Eltern. Es ist irgendwann in den späten 90ern. Sie reisen in ein all-inclusive Hotel in der Türkei. Doch es könnte auch überall sonst wo auf der Welt sein. Denn die einzige Sprache, die man hört, ist die der ebenfalls britischen Touristen. Aber Zeit und Ort könnten nicht egaler sein. Es sind die kleinen Momente, die Charlotte Wells hier wie im Bernstein der kindlichen Erinnerungen gegossen hat. Jedes Detail ein einzigartiger Stein, der aus den Minen des Autobiografischen geschürft wurde und nun eine Fiktion veredelt und zum Leben erweckt. Die Handlung verliert sich zwischen müden Tagen am Pool und lauten Abenden am Buffet. Es ist viel mehr ein Gefühl, das hier entsteht, als eine Geschichte. Eine Sehnsucht, die Vergangenheit zu verstehen. Das Digi-Cam Material, welches Tochter und Vater in ihrem Urlaub einfangen, wird in fragmentarischen Momenten von der nun erwachsenen Tochter in der Zukunft geschaut. So verwandelt sich jeder Augenblick der scheinbaren Gegenwart zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Selbst spontane Schnappschüsse gewinnen an einem Gewicht, das den sonst so sonnigen Film in ein bedrückendes Andenken verwandelt. Es wird nie ausgesprochen, welches Rätsel die erwachsene Tochter in dieser Erinnerung zu entziffern versucht. Doch die emotionale Tiefe, die in jedem Bild mitschwingt, lässt viele Interpretationen gegenüber der Beziehung von Tochter und Vater zu. Charlotte Wells ist in ihrem Spielfilmdebüt ein Meisterwerk gelungen, das unser ungreifbares Verhältnis mit der eigenen Vergangenheit erlebbar macht. Aftersun wirkt nach wie ein leichter Sonnenbrand an der Stelle am Rücken, wo man vergessen hat, Sonnencreme aufzutragen.  

2. The Worst Person in the World (Joachim Trier, MK Productions)
Alle Figuren in diesem Film fühlen sich kurzfristig wie der schlimmste Mensch der Welt, aber trotzdem liebt man sie alle. Joachim Trier spinnt ein Beziehungsdrama in verschiedenen Konstellationen mit Julie, unglaublich gespielt von Renate Reinsve, als Mittelpunkt. Sie ist eine lebenshungrige Frau ende zwanzig, die sich von Hobby zu Job und zurück hangelt. Der Film folgt ihr durch alle Höhen und Tiefen, die sie während zwei romantischen Beziehungen erlebt. Beide Männer lernt man genauso tief kennen und lieben wie sie. Und trotzdem versteht man ihre wachsende Unglücklichkeit, die sie immer wieder einholt, egal wie sehr ihr Partner für sie kämpft. In dem letzten Teil seiner Oslo-Trilogie macht Trier somit die Zeit als ewigen Gegenspieler der Liebe fest. Egal wie perfekt die andere Person anfangs für Julie erscheint, beide treffen sie einfach nicht zum richtigen Zeitpunkt. Und sobald Julie sich auf eine andere Zeitebene bewegt, ist sie für ihren Partner nicht mehr zu greifen, so als wäre sie nicht mehr da. Jede Trennung wird eine herzzerreißende Liebeserklärung an die Liebe selbst und ihre ganz eigene bittersüße Tragik. Es ist die Unzeitlichkeit der Dinge, die Julie im Weg steht, aber trotzdem immer weitertreibt. Trier fängt dieses Gefühl mit einem spielerischen Ideenreichtum ein, der selbst den schwersten Momenten eine magische Leichtigkeit verleiht. Ganz so, als würde man sich im Trennungsprozess neu verlieben. Er hält die Zeit an und lässt Julie durch ein eingefrorenes Oslo rennen, er lässt ihre Haut in Sekunden magisch altern, er jagt uns im Zeitraffer durch ganze Stammbäume und bleibt trotz all dieser Ausgefallenheiten immer ganz nah an Julie dran. So nahe, dass wir uns in ihr wiedererkennen, egal ob ihre Entscheidungen sie gerade zum schlimmsten Menschen der Welt macht oder nicht.

1. Everything Everywhere All at Once (Daniel Kwan & Daniel Scheinert, A24)
Hotdog-Würste als Finger, existenzialistische Steine, ein Waschbär als Chefkoch… Die Daniels haben in diesem Film eine absurde Welt geschaffen, in der wirklich alles möglich ist und trotzdem nichts willkürlich. Im Herzen der Geschichte ist es ein Familiendrama, deren vielseitigen Dynamiken aber durch eine endlose Fülle an Genre-Kreuzungen ergründet wird. Zuerst einmal durch eine ordentliche Prise Sci-Fi, da die Familie in Frage der Auslöser für einen Krieg zwischen allen parallel existierenden Universen ist. So gibt es endlose Variationen der gleichen Familie und ihre scheinbar unersetzbaren Probleme. Egal ob in der Form eines Kung-Fu-Martial-Arts-Filmes, oder in der Ausarbeitung der Hong-Kong-New-Wave, oder als Animationsfilm — die grundlegenden Differenzen der Familie bleiben die Gleichen. In einer fast manischen Schnelligkeit wird man so mit immer wechselnden Szenerien, Kostüme, Charakteren und ganzen Welten konfrontiert. Diese Flicker-artige Montage ist genauso hypnotisierend wie zermürbend. Doch genau darin liegt ihre Intention. Wir erleben den Widerspruch unserer modernen Existenz. In einer Welt, in der wir alles sein können, wissen wir nicht, wie wir gemeinsam miteinander sein können. Die Erkenntnis, dass nichts Sinn ergibt, sollte uns eigentlich befreien, doch die endlosen Möglichkeiten, die sich vor uns auftun, bleiben sinnbefreit ohne dem Gefühl der Verbundenheit und Akzeptanz. Die Verbildlichung der endlosen Möglichkeiten bietet den Daniels eine geniale Grundlage Abertausende ihrer Ideen in einen Film zu pressen, sodass man jeden Moment glaubt, man drohe den Überblick zu verlieren. Diesen Überfluss an Ideen immer wieder stringent zu einem emotionalen Kern zurückzuführen, hält den überquellenden Rahmen jedoch genial zusammen. Everything Everywhere All at Once ist ein maximalistisches Meisterwerk, das eine emotional zugängliche Bildsprache für unsere entrückte Gegenwart entworfen hat. Vor allem das geniale Zwischenspiel von VFX-Technik und Geschichte zeigt einen neuen Weg des Erzählens auf und macht Hoffnung auf eine sich neuerfindende Kinolandschaft. 

Louis Gering verleiht die goldene Essiggurke an die wichtigsten Filme des letzten Jahres

Theoretisch stand das Kino letztes Jahr mit einem Bein im Grab. Die Türen zu den großen Leinwänden waren oftmals verschlossen und der Produktionsstau verhieß einen Action-Blockbuster nach den anderen in die Kinos zu spülen anstatt Platz für Filmkunst. Doch rückblickend war es ein Jahr mit einer unglaublichen Fülle an Kinoerlebnissen, die mir Hoffnung schenken. Deswegen beziehe ich hier Stellung zu den 10 wichtigsten Filmen des letzten Jahres. Eine salzige Empfehlung:

10. Lamb (Vladimir Jóhannsson, A24)

Diesen Film sollte man mit so wenig Vorwissen wie möglich zum ersten Mal sehen. Nur so kann sich die volkstümliche Magie in den weiten Landschaftsbildern von Island entfalten. So viel sei aber verraten: Ein Wolf im Schafspelz ist nichts gegen dieses Lamm.   

9. Malcolm and Marie (Sam Levinson, Netflix)

Während alle noch auf ihren Glitzerfingernägeln herumkauten und auf die Fortsetzung seines Serienhits Euphoria warteten, schüttelte Sam Levinson zwischendurch noch schnell ein filmisches Feuerwerk aus seinem Ärmel. John David Washington und Zendaya sind in diesem Kammerspiel zwei Naturgewalten, die aufeinanderprallen. Und man kann nicht wegsehen. In vielen Momenten erinnert diese Tour de Force an Who is Afraid of Virginia Woolf. Ähnlich wie mit Richard Burton und Elizabeth Taylor verfolgen wir hier eine Beziehungskrise, die innerhalb einer Nacht einen Marathon an Streitthemen zurücklegt. Zugegebener Weise besitzt der Film etwas zu viel Selbstbezogenheit. Manchmal weiß man nicht, ob der egomanische Filmregisseur, den Washington verkörpert, absichtlich ein überzeichnetes Arschloch ist, oder ob Sam Levinson sein eigenes Genie an die Wand malen wollte. Doch solange Zendaya und Washington all das so verdammt gut rüberbringen, kann ich nicht umher zu schreien: Ich will ein Kind von euch!

8. Lieber Thomas (Andreas Kleinert, Wild Bunch)

Eine Filmbiografie über einen anderen Filmemacher auf die Leinwand zu bringen birgt viele Gefahren. Wie vermengt man das gesamte Leben eines Illusionisten in einer eigenen Illusion? Doch dieses Biopic über den DDR-Filmemacher und Autoren Thomas Brasch geht den meisten Fettnäpfchen gekonnt aus dem Weg. Brasch war einer, der nirgendwo hineinpasste und auch nirgends hineinpassen wollte. So wird es jedenfalls erzählt. Der historische Bezug, die Sets, Kostüme und freie Schnauze der Schauspieler*innen, sind alle schön und gut. Doch was diesen Film besonders macht, sind die nahtlosen Übergänge zwischen historischer Realität und den Fantasiewelten des Protagonisten. Lieber Thomas verfällt so niemals der Nostalgie einer vergangenen Zeit, sondern zeigt ausdrucksstark, dass es immer die Vorstellungskraft von einigen wenigen Träumern und Verrückten war, die einer bestimmten Zeit Bedeutung verleiht.

7. Fabian, oder der gang vor die Hunde (Dominik Graf, DCM)

Dominik Graf verfilmt Erich Kästners Roman so verspielt und experimentierfreudig, das man sich in den ersten Minuten des Filmes an die wilden Schnittgewitter zwischen Super8-Aufnahmen, Theaterbühnen und Kamerafahrten erst mal gewöhnen muss. Doch genau so wird man hineingezogen in die Welt von Fabian, für den die Welt um sich herum wenig Sinn ergibt. Fabian flaniert durch eine ähnlich politisch aufgeladene Zeit wie der heutigen in einem Berlin, das oftmals absichtlich genauso aussieht wie 2021 anstatt 1930. Dominik Graf schafft es somit die Vergangenheit nicht nur zu dokumentieren, sondern sie als lebendiges Mahnmal zu inszenieren. Die erste Plansequenz des Filmes bleibt hier besonders im Kopf — die Kamera bewegt sich durch einen modernen Berliner U-Bahnhof an Menschen mit iPhones und Kopfhörern vorbei, die Treppe hoch, bis die ersten Passanten im historischen Kostüm an einem vorbeilaufen und man hinaus in das Berlin der 1930er tritt. Jeder Schritt, ein Spagat zwischen heute und gestern. 

6. Azor (Andreas Fontana, Mubi)

Andreas Fontanas Debütfilm ist ein stiller Thriller, der unter die Haut geht. Es ist eine reife Milieustudie über die schattenhafte Welt der internationalen Privatbankiers in Argentinien im Jahre 1980. Diese Privatbankiers sind die Strippenzieher des Kapitals. In den Luxushäusern der Reichen und Schönen sind sie der Realität aber so fern, dass die Militärdiktatur der 80er als bloßer Hintergrund jegliche Bedeutung verliert. Mit dem namenlosen Protagonisten bewegen wir uns auf der Suche nach seinem verschwundenen Kollegen in eine Abwärtsspirale des Wahnsinns. Apocalypse Now trifft auf The Godfather, nur trägt der Pate hier einen Aktenkoffer anstatt eines Revolvers. 

5. The French Dispatch (Wes Anderson, Searchlight Pictures)

Sich in einer ausverkauften Vorstellung von diesem Film umzusehen, war wie als würde man in ein Wes Anderson Museum blicken. Überall hip and quirky Charaktere. Mit The French Dispatch sind Wes Andersons farbrohe und hochstilisierte Filmwelten also endgültig zu einem Kinoerlebnis geworden. Und das zu Recht. Jedes Bild sprüht nur so mit kreativem Spielwitz über. Es ist als würde man jede Millisekunde mit einem perfekt gemalten Tableau beschossen. Doch anders wie in Grand Budapest Hotel ist das diesmal nicht ein leeres Spektakel. Hier entfaltet sich ein Geschichtenerzähler rührend in einer Ode an das Geschichtenerzählen. 

4. The Green Knight (David Lowery, A24)

In diesem Art-House Fantasy Blockbuster verbindet David Lowery die vielen Gegensätze, die seine bisherigen Filme so einzigartig machten, zu einem großen Gesamtwerk. Die ritterliche Moral, ein Held zu sein, treibt Dev Patel dazu, Abenteuer zu bestehen, die seinen Anforderungen an sich selbst immer weiter verqueren. Basierend auf einem mittelalterlichen Gedicht löst sich dieser Ritterepos von allen Erwartungen und bannt etwas Zeitloses auf die Leinwand.

3. Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (Alexandre Koberidze, DFFB)

In seiner “Bauanleitung eines Jungen Films” hat Leo Geisler für Filmdämmerung geschrieben “Es so zu sagen, wie es ist, heißt die bestehende Welt verfestigen. Dabei muss sie doch verflüssigt werden”. Und genau das tut dieser märchenhafte Film von Alexandre Koberidze. Alltägliche Szenen in einer georgischen Kleinstadt werden mit solcher Magie inszeniert, das sich die letztjährige Berlinale zu recht verzaubern hat lassen. Was man sieht, wenn wir in den Himmel schauen bleibt zwar unbeantwortet, aber durch diesen Film schaut man wie ein Kind auf unsere Welt. 

2. Annette (Leos Carax, Alamode)

Von der ersten Sekunde an bebt man im Takt eines jeden Liedes mit, das dieses Musical so spielerisch leicht inszeniert. Trotzdem fühlt man sich nie sicher, ob Leos Carax die von den Sparks-Brüdern geschriebenen Songs persifliert oder todernst nimmt. Noch nie kam kitschiger Pop den menschlichen Abgründen so nah. Und die beste Sexszene des vergangenen Jahres geht auch ganz klar an Annette — ich meine, wer kann zu Adam Driver und Mario Cottillard Nein sagen? Vor allem wenn beide während der Sexszene nackt und verschwitzt “We love each other so much” singen.

1. Titane (Julia Ducournau, Neon)

In einigen Kinovorstellungen dieses Body-Horrorfilmes soll sich schon übergeben worden sein. Kann es ein cooleres Kompliment für einen Film geben? Die körperlichen Reaktionen, die Titane jedenfallsfähig ist auszulösen, sind aber nichts im Vergleich zu der unglaublichen Emotionalität, mit der jeder Moment aufgeladen ist. Ducournau hat hier eine neue Filmsprache ins Leben gerufen, die eine so gewaltige Gefühlswelt nach außen kehrt, dass die Realität in ihrem Angesicht erschaudert. Es ist ein solch mutiger Film, dass es genauso großen Mut erfordert, sich ihm zu stellen. In meinen Augen ist es genau diese Art von Zuschauerschaft, die das Kino von morgen schaffen muss.

Hinter den Kulissen der jährlichen Verleihung der goldenen Essiggurke. Ein Programm des Deutschen Filmförderfonds. Diesjähriger Host: Sven Ritter

An anderer Stelle schreiben wir:

„Wir sehen den Diskurs in all seinen Formen als wesentlichen Teil der Filmkultur.“

Um dieser Behauptung gerecht zu werden folgt nun die Kritik der filmischen Gedanken eines Enkels von seiner Großmutter. Somit wird der Reflektion der Spiegel vorgehalten.

Zwischen den Zeilen offenbart sich wieder und wieder die Erinnerung an eine Zeit, in der die Filme laufen lernten. Nun, da die Filme zum Hausarrest verdonnert sind, ist es an uns, dafür zu sorgen, dass sie ihrer Lieblingsbeschäftigung – dem Laufen im Kino – auch zukünftig ohne Krücken nachgehen können.

– Leo Geisler

My grandmother never saw Marcello Mastroianni. But she met him when she read my letter to him.


Her critique of my writing became a conversation about cinema. Cinema as an analogy to her flawed marriage to my grandfather. 

Read the original visual letter here: https://filmdaemmerung.studio/2020/12/28/lieber-
marcello/





– Louis Gering

Directed by Louis Gering