
Es ist acht 1/2 zu Nacht. Herr W sitzt mit Herrn M in der Paris Bar, Westberlin. Sie unterhalten sich angestrengt und doch mit Witz.
Herr M
Vor dem Schlafengehen noch einen Kaffee, damit ich schneller träume. Wir sind die Generation, die vom Internet überlaufen wurde. Jetzt stehen wir da mit all den Möglichkeiten und wissen nicht, wohin. Wir wissen nur: Eine Eule heckt keinen Blaufuß. Jede Nacht kommt die Eule heraus und betrachtet den Mond. Der Mond geht auf, der Mond geht unter. Jede Nacht ereignet sich dieses wiederkehrende Schauspiel am Himmel, das immer auch einmalig ist. Wie der Theaterabend oder, oder nicht?
Herr W
Reden wir zu Anfang von etwas anderem, reden wir von alten Zweifeln, die in Vergessenheit geraten sind oder in Entscheidungen verschwanden, denn der Film will dem Theater immer noch ans Leben oder zumindest an die Wäsche. Und das Theater lässt das auch noch zu, sieht nur zu und beharrt des Beharrens halber auf seine Absolutheit. Das Theater ist so etwas, dass durch die Corona-Pandemie eine Chance bekommen hat wieder aufzuerstehen (und sich dadurch endlich vom Zwang, dem Film gerecht werden zu müssen, befreien könnte). Und warum nicht diese Chance ergreifen, sich endlich vom Film zu lösen und die Kamera für seine eigenen Zwecke zu nutzen?
Herr M
Während sich der Film in der Postproduktion entscheidet, entscheidet sich das Theater bereits im Moment des Spielens!
Herr W
Das ist ja fast schon eine Plattitüde. Das kannst du das nächste Mal weglassen. Früher konnte man alles, was man sah, auch anfassen und damit für sein individuelles Verständnis begreifbar machen, außer Gott. Heute gibt es die analoge Welt, Gott und die digitale Welt, also auch den Live_Stream. Wir müssen heute die digitale Welt in unser Verständnis von Realität mit einbeziehen und mitdenken, denn die digitale Welt und ihr BEINAH, schier unendlicher Raum steht noch in den Kinderschuhen.
Herr M
Du meinst wohl: steckt noch in den Kinderschuhen.
Herr W
Jacke wie Hose, so egal ist das. Und damit habe ich als Zuschauender doch das Problem, wie ich einer Live_Stream Aufführung des Theaters gegenüber trete. Natürlich nicht mit der Erwartungshaltung, mit der ich mit einer Johan-Simons-Inszenierung im Schauspielhaus Bochum in ein Verhältnis trete. Es ist etwas anderes und das muss ich als Betrachter akzeptieren, es ist etwas Neues und ich muss es auch als solches behandeln, da macht der Vergleich mit dem bereits dagewesenen, akzeptierten Alten keinen Sinn mehr.
Herr M
Die Katze lässt das Mausen nicht. Ja, willst du denn eine Revolution starten? Mein Amico, ich muss dich bremsen. Wenn du vom Live_Stream im Theater sprichst, dann meinst du damit nicht den notgedrungenen Mitschnitt einer Inszenierung für ein Publikum, das zu Hause im Lockdown sitzt und wartet und wartet, sondern vielmehr die Inszenierung, die extra für einen Stream konzipiert wurde. Verstehen wir uns da richtig?
Herr W
Bingo, voll auf die 12. Als Beispiel möchte ich die Inszenierung Der Zauberberg nach Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater in Berlin anführen. Ein Theaterabend, der nicht als Konserve, sondern als einmaliges Ereignis im Live_Stream seinen Ausdruck findet. Man muss doch das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Das alles, was im Live_Stream Theater gerade seinen Ausdruck findet und für uns alte Theaterhasen speziell erscheint, ist doch im Film schon längst allgemein. Halt, nein, der Film stoppt, aber der Live_Stream läuft einfach weiter. Die Welt des Zauberbergs zu verlassen, da ich ein menschliches Rühren verspüre oder noch einen Schnaps brauche, um überhaupt irgendwas zu verstehen, das geht jetzt nicht. Die Gegenwart ist sozusagen die Zeit als bewegtes Bild der Ewigkeit auf meinem Bildschirm vor mir. Die Ewigkeit wird im Theater immer als ein zeitloses Jetzt bestimmt. Das ist doch das Schöne am Theater, dass alles Jetzt, im Moment stattfindet. Ein Mann nimmt einen Schluck Kaffee zu sich, während ein anderer an ihm vorübergeht und mehr noch, noch mehr, eine Handlung überlagert die nächste, zerstört sie, schafft platzt für Neues und alles ist in Bewegung, ALLES.
Herr W nimmt einen Schluck Kaffee zu sich. Er räuspert sich. Ein Fremder, nein, ein Gast geht am Tisch vorbei Richtung Osten.
Herr M
Das ist doch alles blah hub blah. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Vor 20 Jahren mein Lieber, das ist 20 Jahre her, als Katie Mitchell das auch schon begriffen hatte. Ein Hoch auf das Bild, ja. Aber Sebastian Hartmanns Zauberberg profiliert nicht nur durch besondere Ausformulierung von irgendeiner Gegenwart, sondern durch eine spezielle Kommunikation. Zum einen ist hier die Kommunikation zwischen den Akteuren und Akteurinnen interessant, die durch den Text in keinen direkten Dialog untereinander treten, sondern erst durch eine Zusammensetzung der einzelnen fragmentarischen Monologfetzen eine dialogähnliche Form kreieren. Das ist so, als würde man in eine Leere hineinsprechen und hoffen, dass wenigstens das eigene Echo antwortet. Dann aber gibt es die Kommunikation zwischen Akteuren und Akteurinnen und den Zuschauenden über den Live_Stream, die allerdings unidirektional vom Sender in Richtung des Empfängers ist. Hier hat man statt der Leere des Zuschauerraums nur ein Medium vor sich, dass alles Gesagte aufsaugt und man kann nur hoffen, dass es irgendwo anders gehört wird. Oder spricht man zu sich selbst? Wie auch immer. Der Zuschauerraum ist leer, alle sitzen vor ihren Bildschirmen und glotzen. Es ist alles ganz genau kalkuliert. Das, was der Film schon lange nutzt, findet nun im Live_Stream Theater Abend anklang. Die Akteure und Akteurinnen spielen für die Kamera, die in der Rolle des zwischenzeitlichen Zuschauers agiert.
Herr W
Ja genau, der ganze Apparat wirkt jetzt als EIN gleichrangiges Ensemble: Regie, Bühne, Videoanimation, Live_Stream Bildregie, szenisches Video, Kostüme, Licht, Live_Stream Kamera, Head of Stream, Ton, Sendeton, Musik, Dramaturgie und Schauspiel. Manuel Harder stemmt einen Monolog. Die Kamera kommt aus der Totale, geht in die Nahe, wir sehen jetzt jede Pore, den Atem, sehen ihn leiden, sehen was er denkt, fühlt. Die Stimme erklingt ganz klar durch die Mikroports hindurch, auch der Sound stimmt und kommt perfekt abgestimmt durch zu uns, das Licht ist wie auf ihn zugeschnitten, maßgeschneidert ist auch die Traumsequenz auf Video, die ihm Rückendeckung gibt. Alles spielt im Soloflug und kreiert durch die Zusammensetzung das Gesamtkunstwerk der Aufführung, wie im Jazz. Ein perfekter Moment, der sich den Weg über die Kamera bis in das Wohnzimmer der Zuschauenden bahnt. Lange Rede, kurzer Sinn: Man ist das gut.
Herr M
Na ja, Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Aber das ist so gut, es ist SOO gut. Die technischen Möglichkeiten des Films für das Theater nutzen – für ein Neues Theater, ein Theater für alle, ein Theater des Live_Streams. Wie dem auch sei, man wird darauf zurückkommen. Denn man fängt gerade erst an über ein Neues Theater, ein Theater, das den Live_Stream akzeptiert und als Chance für eine Erneuerung anerkennt, Unsinn zu verzapfen. Ich mache den Anfang. Es ist mir eine Ehre.
Die Herren bestellen noch zwei Konyagi, trinken diese in einem Zug und verabschieden sich dann mit der Floskel „Wir bleiben in Touch“ voneinander.
Marlon Bienert ist Schauspieler und Videokünstler. Er studierte Architektur an der TU München und beginnt demnächst sein Schauspielstudium an der Otto-Falckenberg-Schule.