Louis Gering verleiht die goldene Essiggurke an die wichtigsten Filme des letzten Jahres
Theoretisch stand das Kino letztes Jahr mit einem Bein im Grab. Die Türen zu den großen Leinwänden waren oftmals verschlossen und der Produktionsstau verhieß einen Action-Blockbuster nach den anderen in die Kinos zu spülen anstatt Platz für Filmkunst. Doch rückblickend war es ein Jahr mit einer unglaublichen Fülle an Kinoerlebnissen, die mir Hoffnung schenken. Deswegen beziehe ich hier Stellung zu den 10 wichtigsten Filmen des letzten Jahres. Eine salzige Empfehlung:
10. Lamb (Vladimir Jóhannsson, A24)
Diesen Film sollte man mit so wenig Vorwissen wie möglich zum ersten Mal sehen. Nur so kann sich die volkstümliche Magie in den weiten Landschaftsbildern von Island entfalten. So viel sei aber verraten: Ein Wolf im Schafspelz ist nichts gegen dieses Lamm.
9. Malcolm and Marie (Sam Levinson, Netflix)
Während alle noch auf ihren Glitzerfingernägeln herumkauten und auf die Fortsetzung seines Serienhits Euphoria warteten, schüttelte Sam Levinson zwischendurch noch schnell ein filmisches Feuerwerk aus seinem Ärmel. John David Washington und Zendaya sind in diesem Kammerspiel zwei Naturgewalten, die aufeinanderprallen. Und man kann nicht wegsehen. In vielen Momenten erinnert diese Tour de Force an Who is Afraid of Virginia Woolf. Ähnlich wie mit Richard Burton und Elizabeth Taylor verfolgen wir hier eine Beziehungskrise, die innerhalb einer Nacht einen Marathon an Streitthemen zurücklegt. Zugegebener Weise besitzt der Film etwas zu viel Selbstbezogenheit. Manchmal weiß man nicht, ob der egomanische Filmregisseur, den Washington verkörpert, absichtlich ein überzeichnetes Arschloch ist, oder ob Sam Levinson sein eigenes Genie an die Wand malen wollte. Doch solange Zendaya und Washington all das so verdammt gut rüberbringen, kann ich nicht umher zu schreien: Ich will ein Kind von euch!
8. Lieber Thomas (Andreas Kleinert, Wild Bunch)
Eine Filmbiografie über einen anderen Filmemacher auf die Leinwand zu bringen birgt viele Gefahren. Wie vermengt man das gesamte Leben eines Illusionisten in einer eigenen Illusion? Doch dieses Biopic über den DDR-Filmemacher und Autoren Thomas Brasch geht den meisten Fettnäpfchen gekonnt aus dem Weg. Brasch war einer, der nirgendwo hineinpasste und auch nirgends hineinpassen wollte. So wird es jedenfalls erzählt. Der historische Bezug, die Sets, Kostüme und freie Schnauze der Schauspieler*innen, sind alle schön und gut. Doch was diesen Film besonders macht, sind die nahtlosen Übergänge zwischen historischer Realität und den Fantasiewelten des Protagonisten. Lieber Thomas verfällt so niemals der Nostalgie einer vergangenen Zeit, sondern zeigt ausdrucksstark, dass es immer die Vorstellungskraft von einigen wenigen Träumern und Verrückten war, die einer bestimmten Zeit Bedeutung verleiht.
7. Fabian, oder der gang vor die Hunde (Dominik Graf, DCM)
Dominik Graf verfilmt Erich Kästners Roman so verspielt und experimentierfreudig, das man sich in den ersten Minuten des Filmes an die wilden Schnittgewitter zwischen Super8-Aufnahmen, Theaterbühnen und Kamerafahrten erst mal gewöhnen muss. Doch genau so wird man hineingezogen in die Welt von Fabian, für den die Welt um sich herum wenig Sinn ergibt. Fabian flaniert durch eine ähnlich politisch aufgeladene Zeit wie der heutigen in einem Berlin, das oftmals absichtlich genauso aussieht wie 2021 anstatt 1930. Dominik Graf schafft es somit die Vergangenheit nicht nur zu dokumentieren, sondern sie als lebendiges Mahnmal zu inszenieren. Die erste Plansequenz des Filmes bleibt hier besonders im Kopf — die Kamera bewegt sich durch einen modernen Berliner U-Bahnhof an Menschen mit iPhones und Kopfhörern vorbei, die Treppe hoch, bis die ersten Passanten im historischen Kostüm an einem vorbeilaufen und man hinaus in das Berlin der 1930er tritt. Jeder Schritt, ein Spagat zwischen heute und gestern.
6. Azor (Andreas Fontana, Mubi)
Andreas Fontanas Debütfilm ist ein stiller Thriller, der unter die Haut geht. Es ist eine reife Milieustudie über die schattenhafte Welt der internationalen Privatbankiers in Argentinien im Jahre 1980. Diese Privatbankiers sind die Strippenzieher des Kapitals. In den Luxushäusern der Reichen und Schönen sind sie der Realität aber so fern, dass die Militärdiktatur der 80er als bloßer Hintergrund jegliche Bedeutung verliert. Mit dem namenlosen Protagonisten bewegen wir uns auf der Suche nach seinem verschwundenen Kollegen in eine Abwärtsspirale des Wahnsinns. Apocalypse Now trifft auf The Godfather, nur trägt der Pate hier einen Aktenkoffer anstatt eines Revolvers.
5. The French Dispatch (Wes Anderson, Searchlight Pictures)
Sich in einer ausverkauften Vorstellung von diesem Film umzusehen, war wie als würde man in ein Wes Anderson Museum blicken. Überall hip and quirky Charaktere. Mit The French Dispatch sind Wes Andersons farbrohe und hochstilisierte Filmwelten also endgültig zu einem Kinoerlebnis geworden. Und das zu Recht. Jedes Bild sprüht nur so mit kreativem Spielwitz über. Es ist als würde man jede Millisekunde mit einem perfekt gemalten Tableau beschossen. Doch anders wie in Grand Budapest Hotel ist das diesmal nicht ein leeres Spektakel. Hier entfaltet sich ein Geschichtenerzähler rührend in einer Ode an das Geschichtenerzählen.
4. The Green Knight (David Lowery, A24)
In diesem Art-House Fantasy Blockbuster verbindet David Lowery die vielen Gegensätze, die seine bisherigen Filme so einzigartig machten, zu einem großen Gesamtwerk. Die ritterliche Moral, ein Held zu sein, treibt Dev Patel dazu, Abenteuer zu bestehen, die seinen Anforderungen an sich selbst immer weiter verqueren. Basierend auf einem mittelalterlichen Gedicht löst sich dieser Ritterepos von allen Erwartungen und bannt etwas Zeitloses auf die Leinwand.
3. Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (Alexandre Koberidze, DFFB)
In seiner “Bauanleitung eines Jungen Films” hat Leo Geisler für Filmdämmerung geschrieben “Es so zu sagen, wie es ist, heißt die bestehende Welt verfestigen. Dabei muss sie doch verflüssigt werden”. Und genau das tut dieser märchenhafte Film von Alexandre Koberidze. Alltägliche Szenen in einer georgischen Kleinstadt werden mit solcher Magie inszeniert, das sich die letztjährige Berlinale zu recht verzaubern hat lassen. Was man sieht, wenn wir in den Himmel schauen bleibt zwar unbeantwortet, aber durch diesen Film schaut man wie ein Kind auf unsere Welt.
2. Annette (Leos Carax, Alamode)
Von der ersten Sekunde an bebt man im Takt eines jeden Liedes mit, das dieses Musical so spielerisch leicht inszeniert. Trotzdem fühlt man sich nie sicher, ob Leos Carax die von den Sparks-Brüdern geschriebenen Songs persifliert oder todernst nimmt. Noch nie kam kitschiger Pop den menschlichen Abgründen so nah. Und die beste Sexszene des vergangenen Jahres geht auch ganz klar an Annette — ich meine, wer kann zu Adam Driver und Mario Cottillard Nein sagen? Vor allem wenn beide während der Sexszene nackt und verschwitzt “We love each other so much” singen.
1. Titane (Julia Ducournau, Neon)
In einigen Kinovorstellungen dieses Body-Horrorfilmes soll sich schon übergeben worden sein. Kann es ein cooleres Kompliment für einen Film geben? Die körperlichen Reaktionen, die Titane jedenfallsfähig ist auszulösen, sind aber nichts im Vergleich zu der unglaublichen Emotionalität, mit der jeder Moment aufgeladen ist. Ducournau hat hier eine neue Filmsprache ins Leben gerufen, die eine so gewaltige Gefühlswelt nach außen kehrt, dass die Realität in ihrem Angesicht erschaudert. Es ist ein solch mutiger Film, dass es genauso großen Mut erfordert, sich ihm zu stellen. In meinen Augen ist es genau diese Art von Zuschauerschaft, die das Kino von morgen schaffen muss.