
HEINER MÜLLER: Menschheitsgeschichte ist ja auch Naturgeschichte. Der Kampf der Silberfische in meiner Neubauwohnung zum Beispiel: Es sind wenige, aber ab und zu kommt einer hoch bis in die 14. Etage; wahrscheinlich sind sie in den unteren Etagen sehr viel zahlreicher. Aber manchmal, morgens, wenn ich so in das Bad komme, hat sich gerade wieder einer die Wanne hochgearbeitet. Den spüle ich dann weg; drei Tage später ist wieder einer da, wahrscheinlich nicht derselbe, die leben ja irgendwie kollektiver. Für die Silberfische ist, was sich da abspielt, Geschichte. Aus hinreichend astronomischer Entfernung ist unsere Geschichte auch nichts anderes als der Versuch, an den Rand der Badewanne zu gelangen. Was die Silberfische nie schaffen, solange die Wohnung bewohnt ist; sie haben einfach nie genug Zeit, wirklich so hoch zu kommen. Das ist nicht leicht. Bleibt die Frage, wer wohnt gegen uns. Stört unser höheres Streben, spült uns weg. Oder machen wir das wirklich selber. […]
Das ist die Sinn-Frage. Aber irgendwie scheint es drin zu sein, dieser Drang nach oben. Oder draußen. Auch bei den Silberfischen. Dabei haben sie es doch gut in den Leitungen. Was treibt sie aus der Wanne? Überdruss am Alltag, Lust auf Abenteuer, Grenzüberschreitung. Lust auf Schuld und Sühne.
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