PAPIERFLIEGER: Image to Words

14.04.2021, 16:48

Liebe Ella,

Wenn ich alleine bin, überfallen mich die Worte. Ich sitze an meinem Schreibtisch, lese einen Text für die Uni oder schaue vielleicht einen Film – dann: Eine Tür wird aufgetreten, Glas zerbricht, die Maskierten stürmen herein. Es klingt aus der bodenlosen Leere meines Bewusstseins: “Ah, ich brauche noch Eier.” Die Wörter machen es sich bequem ohne, dass ich dagegen etwas tun könnte. 

Mein Selbst als solches ist ein Netz aus Sprache. Ohne Worte wäre ich nicht nur nicht Ich, sondern Nichts. Das gespenstige Etwas, das ich Ich nenne, offenbart sich nur im stillen Selbstgespräch, dem Denken. Will ich etwas schreiben, teilt es sich in A und B, in beginnt darüber zu streiten, wie beispielsweise die Szene ausgestaltet, welche Worte in die Münder der Figuren gelegt werden sollen. 

Selbst wenn mein bewusstes Selbst nicht anwesend ist, ist mein Ich in Form von Wortgebilden zugegen. So wache ich manchmal auf, weiß nicht wo/wer/was ich bin, weiß nur, dass da dieser Satz ist, unreflektiert und nüchtern: 

Ah, ich brauche noch Eier.” 



05.05.2021, 16:45

Lieber Leo,

deine Flut an Worten hat mich untergraben. So viele Buchstaben und Hüllen, dabei sehe ich nur ein Ei. Das Ei liegt oberhalb meiner Lider, erscheint an einem mysteriösen Ort jenseits meiner Stirn, weder innerhalb noch außerhalb meiner Selbst.

Das Bild eines Eis. Als Konsequenz: Das Gefühl, nochmal zum Supermarkt gehen zu müssen.

Also, was war nun zuerst da? Das Huhn oder das Ei? Das Wort oder das Bild?

Ich bin neugierig: Was passiert in deinem Gehirn, wenn du an deine Mutter denkst? Das Wort Mutter?

16.06.2021, 19:29

Liebe Ella,

entschuldige bitte das unangenehm lange Schweigen meinerseits – betrachte es vielleicht als Wiedergutmachung der Wortflut zuvor. Wenn ich das Wort ‘Mutter’ höre, sehe ich eine Fotografie meiner Mutter, in welcher sie meine kleine Schwester, damals eine Neugeborene, im Krankenhaus in den Armen hält. Es gibt eine zweite Fotografie, auf der man mich, gerade einmal drei Jahre alt, bei ihr am Krankenhausbett stehen sieht, in der Hand eine Fanta-Dose. Ich glaube hierbei handelt es sich um meine erste Erinnerung – ich erinnere mich an die Fanta-Dose – wie ich sie im Krankenhausaufzug, mein Vater neben mir, in der Hand halte und mich freue. Daran, meine Schwester, diesen neuen Mensch, im Krankenhaus gesehen zu haben, erinnere ich mich nicht…

Was hältst Du von diesem Textauszug:
(Keine Sorge – es besteht, so meine Hoffnung, ein thematischer Bezug):

“An nichts so richtig – filmästhetischen Kram. Findest du nicht auch, dass der konventionelle Film etwas faschistisches hat? Alles muss immer sichtbar sein. Nichts wird offen gelassen. Das Publikum wird von einer Einstellung in die nächste gehetzt, sodass die Bilder gar nicht atmen können. Die grundsätzliche Methode in vollendeten Bildern zu erzählen ist faschistisch, weil Bilder bereits den letzten Schritt verkörpern und die Gedanken in unseren Köpfen kolonialisieren. Sie befehlen mir, was ich zu sehen habe. Wörter hingegen sind lediglich abstrakte Symbole der Wirklichkeit, sie überlassen unserer Fantasie den letzten Schritt. Ich sage: Das schöne Kind lacht im Blumenfeld. Und deine Fantasie formt ein freies Bild, das nur dir gehört. Dasselbe gilt für die Musik“, sage ich bestimmt und bin selbst überrascht.“



20.06.21, 23:51

Lieber Leo, 

spannend, dass du eine Fotografie siehst, und keine echte Erinnerung. Gibt es deine Mutter auch als etwas Bewegliches in deiner Erinnerung? Könntest du sie dir vor dem inneren Auge vorstellen, an irgendeinem Ort?

(Anekdote: Was von der Geburt meines jüngeren Bruders hängengeblieben ist, ist ebenfalls nicht dieser sonderbare neue Mensch – sondern ein Plüschtieraffe, den ich von den Hebammen geschenkt bekommen hatte. Kommt man denn als Kind schon materialistisch auf die Welt?)

Naja. Zurück zum Blabla: 

Film ist ein visuelles Medium. Folgt man deinem oben zitierten Text, sollte man nie wieder Filme schauen und ab sofort nur noch zur Literatur greifen, besser noch, die Augen verschließen.

Ich habe mich zurückgehalten, den Begriff Faschismus – ein großes und schweres Wort – in Google reinzuhauen, um eine so offene Verwendung zu überprüfen. Ein weiteres von diesen vielen vielen Wörtern.

Den Urheber dieses Textes würde ich gerne fragen: Ist die Mona-Lisa für dich faschistisch? Ist ihr berühmtes Lächeln vollendet und eindeutig?

Ich gebe zu: Bilder verbergen nichts. Doch solange die Bilder atmen, großzügig gewählt sind, kann ein jeder selbst bestimmen, wohin er sieht. Und geht es gleichzeitig im Kino nicht gerade darum, was man nicht sieht? (Die Leinwand als Fenster zu einer viel größeren Welt jenseits des Frames.) 

Wenn Bilder nichts verbergen, ist zumindest ihr Sinn immer zweifelhaft (wenn nicht sogar irrelevant). Und genau das unterscheidet sie von Worten, Worte, die immer einen Sinn (oder mehrere) haben, denn ist das nicht die einzige Funktion der Wörter? Den Objekten und Bildern um uns herum einen Sinn zu verleihen – und damit eine Berechtigung zu existieren?

Um dir noch etwas zurückzuspielen; ein Satz aus Hermann Hesses Siddharta

„Es gibt kein Ding, das Nirwana wäre; es gibt nur das Wort Nirwana.“



24.06.31, 14:54

Liebe Ella,

danke für deinen schönen Brief. Fantadosen und Plüschtieraffen.

Meine Mutter existiert auch als ein sich bewegender Mensch in meiner Erinnerung und es gelingt mir auch, sie in nie dagewesene Fantasieräume zu setzen, wenn ich mich anstrenge, doch es fällt mir schwer. Ich denke, das Schubladenarchiv meines Hirns hat wohl die Karteikarte zum Begriff ‘Mutter’ mit dem eindeutigsten Bild beschrieben: Eine Frau, die ein Neugeborenes in ihren Armen hält.

Ausgangspunkt für die faschistoide Qualität der Bilder ist lustigerweise ein Gedanke Roland Barthes zum Wesen der Wörter gewesen: “… die Sprache als Performanz aller Rede ist weder reaktionär noch progressiv; sie ist ganz einfach faschistisch; denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, es heißt zum Sagen zwingen.” Sobald der Mensch die Sprache erlernt hat, kann er nicht mehr anders, als sie im inneren Monolog (den Gedankengängen) wieder und wieder zu produzieren. Überfallartig aus dem Nichts: EIER KAUFEN!

Zum Bild, das verbirgt, anstatt zu offenbaren, schießt mir Kiarostami und seine Position, dass nur der halbe Film für ihn interessant ist, in den Kopf – Im Anschluss die Frage: Stellst Du Dir manchmal vor, dass das Bild hinter den Grenzen seiner Rahmung weitergeht? Gibt es in Deinem Kopf gar den Spiegel zum tatsächlich vorhandenen Bild, den Gegenschuss, welcher dem gerade laufenden Film eine Form von Dreidimensionalität verleiht?

19.07.2021, 11:02

Lieber Leo,

ich stelle mir IMMER vor, dass ein Bild hinter der Rahmen weiterläuft…für mich ist es das, was Kino seine Magie verleiht. Die Leinwand ist keine abgeschlossene Welt, so wie ich es beispielsweise im Theater oft erlebe; die Leinwand gibt mir einen Impuls, der mich dazu beeinflusst, eine ganze neue Welt zu erleben. 

Das Filmemachen wird dadurch zu einer Arbeit, die mit der Vorstellungskraft des Publikums arbeitet und dadurch deutlich weniger erklären muss. Es gibt keine unsichtbaren Worte, aber es gibt unsichtbare Bilder. Anders gesagt: Wörter beschreiben, was ist. Bilder können zeigen, was nicht ist, bzw. sein könnte. Bildlücken, die von jedem Individuum ausgefüllt werden können.

Ich spinne nur etwas herum….

Wenn jetzt laut Roland Barthes Bilder UND Worte faschistisch sind, frage ich mich, was da eigentlich noch übrigbleibt.

Vielleicht nur noch der Versuch, damit umzugehen.

Es war schön, mit dir zu schreiben.

Und jetzt muss ich mich wieder den Bildern widmen :^)


Ella Knorz ist eine einundzwanzigjährige Filmemacherin, die Filmregie an der HFF München studiert.

https://vimeo.com/ellaknorz